Normale Psychose

Nahezu jedEr AnalytikerIn behandelt auch PsychotikerInnen. Allerdings wissen manchmal beide – AnalytikerIn und AnalysantIn – nichts davon (vgl. Leader 2012, 295). In seinem Buch What is Madness? stellt der britische Psychoanalytiker Darian Leader dar, wie es dazu kommt. Auf 360 Seiten führt er in das strukturalpsychoanalytische Verständnis von Psychosen ein. Stilistisch bleibt er dabei ähnlich unangestrengt und leichtfüßig wie in seinem Buch The New Black. Mourning, Melancholia and Depression (2009) oder in dem mit David Corfield gemeinsam verfassten Text Why People Get Sick. Exploring the Mind-Body Connection (2008).

Die Psychosen werden heutzutage – wie vieles andere auch – allzu vereinfacht betrachtet. Sie werden in ein biologisches Register verbannt. Sie werden mit einer Reihe von krisenhaften Symptomen assoziiert und vor diesem Hintergrund vor allem als gefährlich konzipiert. Sie werden mit einer revolutionären politischen Haltung verwechselt. Und sie werden als ein Gegenstand von Fragebogenerhebungen angesehen. Leader erläutert, weshalb eine Orientierung an historischen psychopathologischen Konzepten weiter führt als die zeitgenössische DSM-Kategorisierung. Er macht deutlich, worin sich die verschiedenen psychotischen Strukturen (Paranoia, Schizophrenie und Melancholie) aus strukturalpsychoanalytischer Perspektive voneinander unterscheiden. Ob weitere Spezifizierungen in Autismus und manisch-depressive Erkrankung sinnvoll sind, wird gegenwärtig diskutiert (vgl. ebd., 74).

LeserInnen des Buches werden vertraut gemacht mit psychoanalytischen Voraussetzungen wie den drei Aufgaben, die im Rahmen einer ödipalen Strukturierung zu lösen sind – nämlich einer Einführung von Bedeutung im Kontext des elterlichen Begehrens, einer Lokalisierung der Libido, für die der mütterliche Körper den Horizont bildet, und der Bildung einer Relation zum Anderen samt der Fähigkeit, eine sichere Distanz zu ihm zu wählen (vgl. ebd., 66). Psychotische Strukturen lösen einzelne oder alle diese Aufgaben nicht in der üblichen Weise oder sie (er)finden andere Lösungen. Ihre Formen des Sprachgebrauchs spiegeln diese Lösungen wider. Leader macht auch klar, weshalb gerade Stimme und Blick für die psychotische Struktur eine so wichtige Rolle spielen (vgl. ebd., 165).

Verrückt zu sein (being mad) und verrückt zu werden (going mad) ist nicht dasselbe. Diese Formel bildet eine Art Kontrapunkt des Buches. Bisweilen entsteht der Eindruck, als stelle Leader mit ihr den Unterschied zwischen einer psychotischen Struktur und psychotischen Symptomen dar.  An anderen Stellen dient der Satz zur Beschreibung der sogenannten „blanden Psychose“, die auch als „weiße Psychose“, „normale Psychose“, „alltägliche Psychose“, „gewöhnliche Psychose“ bezeichnet wird (vgl. ebd., 11). Subjekte mit dieser Struktur fallen sich und anderen nicht auf, es sei denn, es kommt zu einer Triggerung, im Rahmen derer sich eine produktive Symptomatik entwickelt. Leader beschreibt die Triggerung als einen in Stadien ablaufenden Prozess, der sich im Umgang der Subjekte mit sprachlicher Bedeutung nachzeichnen lässt (vgl. ebd., 170-174). Eine Vielzahl von klinischen Beispielen und Fallgeschichten aus der Literatur zeigt, dass es oft zunächst rätselhafte Signifikanten sind, die zum Ausbruch einer floriden Symptomatik führen, wie bei einem Mann, der nach Gebrauch eines Insektizids in seinem Garten angesichts des Wortes „Gift“ auf der Spraydose zu halluzinieren beginnt (vgl. ebd., 192). Das Moment der Triggerung spielt auch bei den längeren Fallbeschreibungen im Buch eine wichtige Rolle: bei Freuds Wolfsmann, bei Lacans Aimée und bei Harold Shipman, einem britischen Arzt, der viele seiner PatientInnen getötet hat.

Leader betont, dass er keine allgemeinen Strategien und keine verallgemeinerbaren Techniken im Umgang mit psychotisch strukturierten Subjekten empfehlen kann. Gegen eine vorübergehende medikamentöse Behandlung wendet er sich nicht, wobei er ausdrücklich warnt vor deren gefährlichster Nebenwirkung: der Vorstellung der Behandelnden, die Medikamente könnten ausreichen (vgl. ebd., 329). Er stellt die innere Vielfalt der psychotischen Struktur in beeindruckender Weise dar und votiert dafür, dass jeder Restrukturierungsversuch des Subjekts ernst zu nehmen ist (vgl. ebd., 301). Die einzelnen Vorschläge, die er erwähnt, sind stets bezogen auf spezifische, individuelle Konstellationen von Subjekten. Oftmals ist ihm als Analytiker erst nachträglich aufgegangen, wodurch eine Veränderung statthaben konnte. So erzählt er etwa von einer AnalysantIn, der seine Begrüßung des Postboten mit „Hello Postman“ (vgl. ebd., 304 f.) zu einer Halt gebenden Versteppung von Signifikant und Signifikat verholfen hat .

Literatur:
Leader, Darian (2012): What is Madness? London: Penguin Books.

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