Arme Haut

Es ist nicht klar, ob das Unbewusste den Corro-Narr unterscheiden kann von Corona. Was dagegen klar ist: Das Unbewusste braucht Berührung. Ohne Berührung droht es, von schrecklichen Phantasien überschwemmt zu werden. Die Pandemie hat vor allem neue Berührungsordnungen eingeführt (Lindemann 2020), als wäre souverän nur, wer über die Berührungen herrscht. Berührungen gelten dabei nicht erst seit einem Jahr als potentiell gefährlich. Ihre Gefährlichkeit ist jedoch erst mit der Corona-Pandemie zu einem zentralen Moment so mancher Gesetzgebung geworden. Und das nicht ohne Grund.

Wovon sprechen wir, wenn wir von gefährlichen Berührungen sprechen? Berühren heißt Tasten, Anfassen, Halten, Antippen, Anstoßen, Festdrücken oder Streicheln, Kitzeln und Kratzen. All das (und noch viel mehr) berührt uns, und auf all diese Berührungen kann das Unbewusste nicht verzichten. Gefährlich kann sein, was uns berührt. Wir können von Luftzügen berührt werden – nun denken wir schnell an kontaminierte Aerosole um uns. Wir können im körperlichen Kontakt von jemandem berührt werden – nun impliziert solcher Kontakt eventuell an uns haftende infektiöse Hautflüssigkeiten. Wir können von Worten berührt werden – da sind in uns hinein geratene virale Fake News nicht weit. Die Berührung setzt sich aus einem Spektrum zusammen, das vom Be-, über das Ein- bis hin zum Angreifen reicht. Bei aller Bereitschaft, die aktuell bestehende Notwendigkeit von Berührungsverboten anzuerkennen, weil sich Erreger andernfalls ungebremst ausbreiten können, bleibt ein hoher Preis solchen Eingreifens, der jedenfalls genannt werden soll.

Wir, unsere jeweiligen Iche, sind körperlich – Freud nennt sie Projektionen auf eine Körperoberfläche. Dass die Virtualität der Verbindung zwischen Körper und Ich damit unterstrichen wird, ist gegenwärtig weniger wichtig. Denn der Körper steht im Zentrum der potentiell tödlichen Pandemie. Und „[d]er Körper ist nicht auf Dauer mit dem Tod zu vereinbaren“ (Esposito 2004, 158). Die Haut ist nicht nur ein Teil des Körpers, sie konstituiert den Körper ihrerseits. Ohne Haut kein Körper. Die Haut umgibt das, was Körper ist. Sie schützt, hält zusammen, wärmt, ist Fläche für Erregung, bildet Grenzen gegen Eindringendes, gestattet Einschreibungen.

Ohne Körper kein Ich. Didier Anzieu (1995) hat in den Siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts aufgezeigt, wie das körperliche Wesen des Ichs angewiesen ist auf die Haut. Das Organ, das die beiden bilden, nennt er Haut-Ich. Diese Bezeichnung ist zu spezifizieren. Einerseits gehören die beiden wie ein Organ zusammen. Andererseits erweisen sie sich als getrennt. Das Ich entwickelt sich eigenständig und bleibt doch gleichzeitig imaginativ mit dem Körper verbunden. Das Unbewusste partizipiert an einem imaginären Raum (Sami-Ali 1974), in dem sich das Ich entfaltet, ausbreitet. Mit seinen unbewussten Phantasien reicht es (und mit ihm auch die Haut mit ihrer je individuellen Geschichte) in das Unbewusste hinein. Anzieu unterscheidet neun Funktionen des Haut-Ichs, zu denen unter anderem Schutz, Zusammenhalt, die Bereitstellung einer Erregungszone, aber auch Intersensorialität oder libidinöse Aufladung zählen. Er hebt hervor, dass diese neun Funktionen keineswegs die gesamte Bedeutung der Haut erfassen können. Seine Forschungen versteht er als einen Anfang.

Die Quarantänen, die Abschaffung des Händeschütteln, die Kontaktreduktionen lassen sich nicht auf potentiell schädliche Berührungen beschränken. Berührungsverbote betreffen die Haut in all ihren Funktionen. Wo Schutz, libidinöse Aufladung oder Intersensorialität verschwinden, droht die Haut löchrig, hart, dünn, ja manchmal sogar durchlässig zu werden. Alleinlebende können über diese arme Haut augenblicklich ein trauriges Lied anstimmen.

Literatur:
Anzieu, Didier (1995): Das Haut-Ich. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Esposito, Roberto (2004): Immunitas. Berlin: diaphanes.
Lindemann, Gesa (2020): Die Ordnung der Berührung. Bielefeld: transcript.
Sami-Ali (1974): L’Espace imaginaire. Paris: Gallimard.