Gewöhnlich

Wenn wir etwas gewohnt sind, kommt es uns nicht mehr ungewöhnlich vor. Jacques-Alain Millers postlacanianischer Begriff der gewöhnlichen Psychose (la psychose ordinaire) legt nahe, dass „Psychose“ in den vergangenen Jahrzehnten zu etwas Gewohntem geworden ist. Bevor in weiteren Beiträgen die Implikationen einer solchen Sicht, ihre Querverbindungen zu anderen konzeptuellen Herangehensweisen und Fragen zum heuristischen Wert des Begriffs gestellt werden,  soll zunächst etwas aus der Entstehung des Konzepts beschrieben werden, wie es von Dossia Avdelidi (2016) in ihrem Buch La psychose ordinaire. La forclusion du Nom-du-Père dans le dernier enseignement de Lacan dargestellt ist.

Eine Voraussetzung fuer die Ausarbeitung neuer Psychosenkonzepte liegt in Lacans Pluralisierung des Namens-des-Vaters, von der seit dem abgebrochenen Seminar IX die Rede ist (Lacan 2006). Mehrere Namen des Vaters implizieren, dass sie austauschbar, ersetzbar sein könnten. Wenn aber der Name-des-Vaters ersetzbar ist, dann wird der psychotische Mechanismus der Verwerfung des Namens-des-Vaters, wie Lacan ihn in Seminar III für Schreber beschreibt (Lacan 1975, 1997), zu einem Mechanismus unter anderen, zu einem Sonderfall. Lacan selbst hat eine diesbezügliche Erweiterung seiner Psychosentheorie am Beispiel von James Joyce beschrieben, dessen Sinthom anstelle des Namens-des-Vaters haltgebenden Ersatzcharakter für dessen psychische Struktur hat (Lacan 2005).

Aus der Vorgeschichte (vgl. Avdelidi 2016, 195 f.) ebenso hervorzuheben sind 1987 Millers Gedanke einer allgmeinen Verwerfung und Eric Laurents Lehrveranstaltung über Die Grenzen der Psychose im selben Jahr sowie die Unterscheidung zwischen zum Ausbruch gekommenen Psychosen (les psychoses declenchées) und Psychosen mit Ersatz (les psychoses avec suppléance) im Jahr darauf. Von Didier Cremniter und Jean-Claude-Maleval (1989) kommt die  Unterscheidung zwischen zum Ausbruch gekommenen und nicht zum Ausbruch gekommenen Psychosen hinzu. Diesen beiden Autoren zufolge verhindert ein Ersatz das Ausbrechen einer Psychose. Eine Verbindung zu bestehenden Konzepten versucht Marie Helène Brousse (1988) zu schaffen, indem sie den von Maurits Katan geprägten Begriff der Präpsychose auf das anwendet, was eine  nicht zum Ausbruch gekommene Psychose vor ihrem Ausbrechen ist. Der Präpsychose stellt sie jene Fälle gegenüber, die nie zum Ausbruch kommen und bringt sie mit dem zur Deckung, was andernorts Borderline-Struktur genannt wird. Brousse unterscheidet drei Kategorien: zum Ausbruch gekommene, nicht zum Ausbruch gekommene Psychosen und solche, die durch einen Ersatz des Namens-des-Vaters gehalten werden. Orientiert an subtilen klinischen Zeichen, argumentiert Stevens (1988) ähnlich, wenn er wie Brousse die Frage des Ersatzes nicht selbstverständlich in ein Kontinuum von nicht und schon zum Ausbruch gekommenen Psychosen einordnet. Er spricht im Zusammenhang mit der Psychose von einem versteinerten Subjekt, das den erforderlichen Prozess der Aphanisis nicht durchlaufen hat und daher in einem Zustand der Entfremdung (alienation) verharrt. Den Ersatz sieht er als zusätzlichen konstruktiven Bewältigungsschritt. Hier entsteht die Frage, ob es unterschiedliche psychotische Strukturen gibt, die einerseits – jenseits der Frage eines Ersatzes – zum Ausbruch kommen können und andere, die das nie werden (vgl. Avdelidi 2016, 200). Éric Laurent spekuliert, dass viele Begriffe im Umlauf sind, deren Funktion in eine Begrifflichkeit von Ersatz und Stabilisierung überführbar wäre: Übertragungspsychose, Psychose als Mittel einer neurotischen Abwehr, Neurosen mit grenzpsychotischen Phänomenen, Borderline, Charakterpathologien und Persönlichkeitsstörungen (Laurent 1989). Zu fragen ist an dieser Stelle jedenfalls, ob es Sinn macht, nicht zum Ausbruch gekommene Psychosen ohne Ersatz von solchen mit Ersatz zu unterscheiden. Und es muss der Begriff des Ersatzes genauer untersucht werden.

Bei dem, was Lacan über den Namen-des-Vaters mit Blick auf psychotische Strukturen schreibt, lassen sich – wie so oft – drei Herangehensweisen unterscheiden: die Verwerfung des Namens-des-Vaters, die Prägung des Namens-des-Vaters und der Ersatz des Namens-des-Vaters. Von der Verwerfung handelt das Seminar III, von der Prägung ist im Seminar XXI kurz die Rede, und vom Ersatz lässt sich im Seminar XXIII lesen (vgl. Freda / Yemal 1988). Die Prägung erfolgt übrigens über die Stimme der Mutter (vgl. Lacan o.J., Sitzung vom 19 März 1974).

Literatur:

Avdelidi D (2016) La psychose ordinaire. La forclusion du Nom-du-Père dans le dernier enseignement de Lacan. PUR Rennes.
Brousse MH (1988) Question de suppleance. In: Ornicar ? 47. 65-73.
Cremniter D, Maleval JC (1989) Contribution au diagnostic de psychose. Ornicar ? 48. 69-98.
Freda FH / Yemal D (1988) Forclusion, monnayage et suppléance du Nom-du-Père. In: Collectif, Clinique différentielle des psychoses. Navarin Paris, 148-153.
Lacan J (1975) Über eine Frage, die jeder möglichen Behandlung der Psychose vorausgeht. In: Ders. Schriften III. 61-117. Walter Verlag Olten.
Lacan J (1997) Das Seminar. Buch III (1955–1956). Die Psychosen. Quadriga Weinheim, Berlin.
Lacan J (2005) Le Séminaire. Livre XXIII (1975-1976). Le sinthome. 1975-1976. Seuil Paris.
Lacan J (2006) Namen-des-Vaters (hg. von Jacques-Alain Miller). turia+kant Wien.
Lacan J (o.J.) Le Séminaire. Livre XXI (1973-1974). Les non-dupes errent. Unveröffentlichtes Seminar.
Stevens A (1988) Aux limites des la psychose. In: Ornicar ? 47. 61-65.
Laurent É (1989) Aux limites de la psychose: discussion de trois cas. Les feuillets du courtil, Publication du Champ freudien en Belgique, n° 1, 9-23 (eine unvollständige Version findet sich unter http://www.courtil.be/feuillets/PDF/Laurent-f1.pdf )

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