Ist subjektive Identität und die Suche nach ihr vor allem ein Theater der Täuschungen, wie es von differenzbetonenden Ansätzen in der Psychoanalyse nahegelegt wird? Oder ist die Identität einer Person als ein notwendiges Fundament anzusehen, wie es vonseiten ichpsychologisch beeinflusster Theorien immer wieder unterstrichen wird? Wovon ist die Rede, wenn dezentrierend gegen die Vorstellung einer Identität des Subjekts argumentiert wird? Welche psychoanalytischen Facetten von Identität sind zu berücksichtigen, um etwas von jenen politischen Bewegungen zu begreifen, die mit identitären Parolen auf zunehmende Zustimmung stoßen?
Identität und das argumentative Spiel mit ihr ist nichts Neues, auch nichts primär Psychoanalytisches. Ein Beispiel dafür wäre ein Bischof im Mittelalter, der trotz des Zölibats ganz offiziell eine Frau heiratete. Er sei schließlich beides, argumentierte der Mann, Baron und Bischof. Als Baron stünde ihm das Heiraten ja zu. Und dann, wenn er sich als Bischof verstünde, würde er sich ohnedies an den Zölibat halten (vgl. Kantorowicz 1981, 43).
Als Begriff ist Identität ein neuzeitliches Konzept. Der Bischof hat sich nicht die explizite Frage nach seiner Identität stellen können, weil es Identität als eine Selbstzuschreibung, als eine Beschreibung, für wen ich mich selbst halte, so noch gar nicht gab. Ein psychoanalytisch wirkmächtiges Konzept der Identität von Erik Erikson stammt ähnlich wie Freuds Todestriebhypothese aus Erfahrungen, die mit Krieg zusammenhängen. Eriksons Überlegungen zur Identität nehmen ihren Ausgang von Identitätskrisen, die bei Soldaten auftraten, die in den 1940 ger Jahren aus Kämpfen im Pazifik zurückkehrten. Erikson schreibt über sie in Kindheit und Gesellschaft: „Sie wußten, wer sie waren; sie besaßen eine persönliche Identität. Aber es war, als ob ihr Leben subjektiv nicht mehr zusammenhinge – und nie wieder zusammenhängen könnte. Es handelte sich um eine zentrale Störung dessen, was ich damals begann, Ich-Identität (Ego-Identity) zu nennen“ (Erikson 1971, 36). Den Soldaten war es nicht möglich, ihre Existenz als eine zeitliche Kontinuität zu erleben. Anders als der Bischof konnten sie ihr Problem auch damit nicht lösen, dass sie sich einmal so und dann wieder anders begriffen hätten.
Eriksons Identitätskonzept (vgl. auch für das folgende Descombes 2013, 27ff.) hat in mancher Hinsicht Ähnlichkeit mit dem Konzepten des Selbst, der Persönlichkeit, des Charakters, wie sie heute in Kernbergs Strukturverständnis verwendet werden. Es finden sich Verbindungen zu Ichpsychologie, die kritisiert worden sind (vgl. Bohleber 1999, 510). Von Seiten psychoanalytischer TheoretikerInnen wurde Erikson vorgeworfen, dass er einer sozialen Kategorie wie der Identität so großes Gewicht beimessen wollte. Erikson setzte dagegen, dass Freuds Zugangsweise sich einer bestimmten sozialen Situation verdankte, in welcher Psychoanalyse vor allem die Aufgabe hatte, Hemmungen und Störungen zu behandeln, die sich bei PatientInnen innerhalb einer stabileren sozialen Ordnung mit grosso modo überzeugenderen Gruppenidealen und -vorbildern zeigten. Im Unterschied dazu würden seine, Eriksons, PatientInnen daran leiden, dass ihnen solche Vorbilder suspekt waren oder gar abgingen.
Erikson, ein Analysant von Anna Freud, hat sich seinen Namen übrigens selbst gegeben – seinen Vater hat er nicht gekannt; seine Mutter hatte seinen Stiefvater, der Eriks Kinderarzt war, geheiratet, als Erik drei Jahre alt war. Er bekam vom Stiefvater dessen Nachnamen, Homburger und legte ihn in dem Moment ab, als er im Rahmen seiner Emigration in die Vereinigten Staaten die amerikanische Staatsbürgerschaft annahm. Namen sind wie zu Schrift erstarrte Bröckel von gesprochener flüssiger Identität. Um jemanden wieder zu finden, um uns anderen bekannt zu machen, um uns an andere zu erinnern, um einander an zu sprechen, verwenden wir Namen. Und wenn wir sicher gehen möchten, dass solche Namen etwas länger bestehen bleiben als der Lufthauch, der sich mit ihrem Aussprechen verknüpft, dann schreiben wir sie auch nieder.
Vorgestern hat Karl den Karl gebeten, im Karl drüben den Karl zu überprüfen, da Karl annahm, heute drüben den Karl zu brauchen. Wie sich allerdings nun zeigt, hat Karl seine Karl ohne den Karl gemacht. Denn Karl kam heute gar nicht in dem Karl, wie befürchtet oder erwartet worden war. Die Karl, die Karl gehabt hatte, war also überflüssig gewesen, eine typische Karl-Karl.
An solchen Sätzen, hier frei nach Konrad Bayer formuliert, lässt sich ermessen, wozu Identität auch führen kann: zu einem schönen Wirrwarr. Dabei ist anzumerken, dass in Wien die Redewendung „sich einen Koarl machen“ soviel wie „sich einen Spaß machen“ bedeutet. Wir verstehen nichts mehr, wenn alle Satzgegenstände identische Namen haben. Und doch ist es irgendwie angenehm, was mit diesen Karlsätzen anklingt. Das Sich-einen-Karl-machen ist etwas Lustvolles. Die Karl-Erfahrung erinnert an etwas, was Freud als primitive Form eines Befriedigungserlebnis im Erreichen einer Wahrnehmungsidentität beschrieben hat: Der Säugling kennt nichts Befriedigenderes als das „Bild der Mutterbrust und ihrer Warze in Vollansicht“ (Freud 1895, 424). Jedes Vorkommen von Karl stellt für einen kurzen Moment einen Zustand her, in welchem ähnliche Empfindungen der Befriedigung einsetzen wie damals, als das Kind den Kopf drehte und aus der Seitenperspektive wieder in eine Vollansicht des einzig gewünschten Objekts gelangte. Das kindliche Befriedigungserlebnis wird gewissermaßen herangeholt in Erinnerungsbruchstücken. Diese Wahrnehmungsidentität ist aber nicht dasselbe wie die oben angesprochene Ichidentität. Sie zieht das Subjekt in Richtung eines sprachlosen Bads erfüllter Wünsche, vielleicht in die Zone jener Spannung, von der De M’Uzan schreibt.
Literatur
Bohleber, Werner (1999): Psychoanalyse, Adoleszenz und das Problem der Identität. Psyche 53/6, 507-529, zugänglich hier
Descombes, Vincent (2013): Die Rätsel der Identität. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Erikson, Erik (1971): Kindheit und Gesellschaft. Stuttgart: Klett Verlag.
Freud, Sigmund (1895): Entwurf einer Psychologie. GW. Texte aus den Jahren 1885 bis 1938, 1-905.
Kantorowicz, Ernst (1981): The King’s Two Bodies: A Study in Medieval Politcal Theology. Princeton: Princeton University Press.