Identitätsfragen

Identität und gar Identitäres hat heutzutage keinen guten Ruf. Zu sehr werden beide Begriffe mit politischen Ideen und Gruppierungen verknüpft, die (zu Recht) vor allem in ihrer Gefährlichkeit wahrgenommen werden. Der Begriff der Identität ist im gegenwärtigen Sprachgebrauch in Opposition zu Offenheit, zu Diversität, zu Differenz und zu Fremdem geraten. Das Etikett der Identitären geben sich Gruppierungen mit angstmachendem, zerstörerischem, bisweilen offen gewalttätigem Profil.
In diesem Zusammenhang soll auf einen Beitrag des französischen Psychoanalytikers Michel de M’Uzan aufmerksam gemacht werden: Er schreibt von einer notwendigen identitären Grundspannung (vgl. De M’Uzan 2014, 99ff.). Was versteht er darunter? Aus der Beschäftigung mit Drogensüchtigen kennt er körperliche Zustände, die in ihrer Intensität wie in ihren qualitativen Ausformungen (ungeordnete Bewegungen, unstillbarer Juckreiz am ganzen Körper…) unerträglich im wörtlichen Sinn zu nennen sind. De M’Uzan sieht in ihnen einen früh – lange vor aller Etablierung einer haltgebenden Objektbeziehung – in der Entwicklung erworbenen Mangel an Sein, der bei Betroffenen dazu führt, dass kein Selbstgefühl, keine Empfindung für sich selbst, entstehen kann. Infolge dieses Mangels unterbleibt eine Entwicklung von Libido in Anlehnung an Selbsterhaltungsinstinkte. Die Ausformung einer identitären Grundspannung und damit einer libidinösen Triebstruktur findet nicht statt. Die Applikation von Rauschmittel dient der Kompensation eines lustarmen, lustlosen Zustands, weil der Agent der Lust unklar ist oder fehlt.
Der politische Ruf nach Identität ist vor diesem Hintergrund ein vor allem hilfloser. Ein unerträglicher Zustand soll auf allzu einfache Weise möglichst rasch ein Ende finden. Politik als Rauschmittel? De M’Uzan liefert eine ökonomische Erklärung für Suchtzustände. Gleichzeitig zeigt er, wo Identitäres seinen Platz in der Subjektentwicklung hat. Es bildet eine unverzichtbare Konstante.

Veranstaltungshinweis

Literatur:
De M’Uzan, Michel (2014): Identität und Tod. Gießen: Psychosozial Verlag.

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