Es ist mir eine große Ehre, August Ruhs heute hier in aller Form zu seinem siebzigsten Geburtstag gratulieren zu dürfen. Ich danke Beate Hofstadler und Robert Pfaller für diese schöne Gelegenheit. Ich werde von und zu August Ruhs sprechen, insofern er ein Wissenschafter ist. Meine Ausführungen werden deshalb einen leicht wissenschaftlichen Charakter haben. Ich hoffe, Sie damit nicht zu langweilen.
Mein Vortrag sollte eigentlich einen eigenen Titel bekommen. Mir ist aber nach Fertigstellung des Vortrags kein passender Titel eingefallen. Deshalb bleibe ich beim Arbeitstitel und nenne den Vortrag bei seinem Namen, nämlich Vortrag.
Das Thema meines Vortrags ist die Überschrift des heutigen Abends: Die Menschheit will betrogen sein. Wenn wir wissenschaftlich an diesen Satz herangehen, müssen wir untersuchen, ob er richtig ist, vielleicht sogar, ob er wahr ist. Dazu ist ein Beweis zu führen. Methodisch ist es schwierig, einen Satz über die ganze Menschheit zu beweisen. Deutlich leichter ist es, wenn wir uns auf einen Teil der Menschheit beschränken. Zum Beispiel auf August Ruhs. Denn August Ruhs ist Teil der Menschheit.
Logisch geben zwei solche Sätze schon einiges her. Die Menschheit will betrogen sein. Das wäre eine erste Prämisse. August Ruhs ist Teil der Menschheit. Das wäre eine zweite Prämisse. Und der zugehörige Schluss würde lauten: August Ruhs will betrogen sein.
Das hätten wir allerdings auch einfacher haben können. Wir hätten August Ruhs nur fragen brauchen, ob es stimmt, ob er betrogen werden will. Wenn er sagt: ja. Dann wäre das kein Einwand gegen unseren Schluss und auch nicht gegen den Satz, dass die Menschheit betrogen sein will.
Wenn er aber sagt, nein, dann hätten wir ein Problem. Obwohl – nein: so einfach ist es nicht. Auch schon bei einem Ja von August Ruhs ergeben sich Schwierigkeiten. Denn August Ruhs, wenn er weiß, dass die ganze Menschheit betrogen sein will, denkt natürlich, dass auch wir betrogen sein wollen. Er würde also vielleicht Ja sagen, in Wirklichkeit aber Nein meinen. Der logische Ansatz kann offensichtlich kaum etwas klären.
Wir könnten uns dem Beweis möglicherweise leichter auf indirekte Weise annähern. Indirekt, indem wir vom Gegenteil ausgehen: Die Menschheit möchte nicht betrogen sein. Psychoanalytisch wäre ein solcher Gegenbeweis streng genommen ein Beweis dafür, dass die Menschheit betrogen sein will. Denn die Verneinung lässt sich seit Freud als eine besondere Form begreifen, das Verdrängte zur Kenntnis zu nehmen. Aber wir nehmen es nicht so streng.
Ernst Tugendhat hat vor einigen Jahren in einem Vortrag gemeint, dass es nur eine Situation gäbe, in der wir sicher nicht getäuscht werden wollen – und zwar die, in der wir jemanden in den Armen halten, von dem oder der wir geliebt werden wollen. Das wäre zumindest eine Ausnahme vom Betrogenwerdenwollen der ganzen Menschheit. Ernst Tugendhat formuliert eine Ausnahme. Eine Ausnahme – das ist noch kein Gegenbeweis. Der Satz, die Menschheit will nicht betrogen sein bzw. die Menschheit will betrogen sein, ist deshalb noch nicht falsch oder richtig, denn Ausnahmen neigen ja dazu, Regeln zu bestätigen.
Bei Ernst Tugendhat hat die Ausnahme etwas mit der Liebe zu tun. Und damit haben wir einen wichtigen Zusammenhang entdeckt: Die Liebe ist ein Kernthema vom Betrogensein.
Jacques Lacan, der Held des heutigen Helden August Ruhs, hat einiges über die Liebe gesagt. Besonders bekannt ist ein Satz von ihm, der möglicherweise weiter hilft: Lieben heißt geben, was man nicht hat. Das klingt jetzt gar nicht mehr logisch.
Logisch wäre – und Aristophanes sagt das auch in Platons Gastmahl: Du kannst einem anderen nicht geben, was Du nicht hast. Lacans Behauptung klingt dagegen unlogisch oder fast ein wenig betrügerisch. Denn, wer etwas gibt, was er gar nicht hat, hat es vielleicht jemandem anderen abgenommen, jemanden anderen darum betrogen. Lacan lehnt das Betrügen vielleicht nicht ganz ab, oder er nimmt es zumindest in Kauf. Dafür gibt es übrigens noch ein anderes Indiz, nämlich seine mehrfach geäußerte Annahme, dass Frauen Männer notorisch mit einem Gott betrügen würden.
Das sind jetzt alles Betrachtungen von Männern, was angesichts der Tatsache, dass wir einen männlichen Jubilar feiern, nicht ganz abwegig ist. Trotzdem – wenden wir uns kurz der Seite der Frauen zu. Nicht zuletzt deshalb, weil die Liebe auf der Seite der Frau am Anfang der Psychoanalyse stand.
Begonnen hat alles mit Berta Pappenheim, die in der Geschichte der Psychoanalyse als Anna O. geführt wird. Berta Pappenheim verliebte sich in Josef Breuer, ihren Arzt. Im Nachhinein lässt sich ihre Liebe zu Josef Breuer als ein Fall von mistaken identity lesen: Berta erlag dem, was Freud eine falsche Verknüpfung genannt hat, einer Übertragungsliebe.
Eine hat diese Liebe für eine besonders falsche Verknüpfung gehalten, nämlich Breuers Frau Mathilde, die fürchtete, betrogen zu werden. Und das wollte Mathilde Breuer-Altmann nicht. Sie wollte nicht betrogen sein. Sie ist damit die nächste Ausnahme von der ganzen Menschheit und von deren Wunsch, betrogen zu sein. Sie ist eine weibliche Ausnahme. Wir können daraus schließen, dass der Wunsch nicht betrogen zu sein, kein Geschlecht hat. Er kommt bei einzelnen Männern wie bei einzelnen Frauen vor.
August Ruhs ist einer historischen Zugangsweise zur Frage der Liebe in der Psychoanalyse gewiss zugeneigt. Und doch muss hier hervorgehoben werden, dass sein Forschungsinteresse nicht in erster Linie der Liebe, sondern mehr noch den damit zusammenhängenden Themengebieten des Genießens und der Geschlechterverhältnisse gilt. August Ruhs hat – wie wir heute übrigens noch hören werden – mit Bezugnahme auf Pierre Klossowski, eine, in gewisser Hinsicht vergleichbare Konstellation wie jene zwischen Breuer und den beiden Frauen beschrieben. Nur dass nicht zwei Frauen und ein Mann, sondern zwei Männer und eine Frau im Spiel sind, eine geschlechtliche Verkehrung der Verhältnisse gewissermaßen.
Die männlichen Protagonisten sind Oktave und ein jeweils Anderer. Roberte vertritt die Seite der Frau. Der siebzigjährige Oktave – bei diesem Alter haben wir es mit einem, in der Psychoanalyse so gut wie nie vorkommenden Zufall zu tun, – ein seines Amtes enthobener Professor einer theologischen Fakultät, ist mit Roberte, einer deutlich jüngeren Frau und Präsidentin des Zensurbeirates verheiratet. Oktave hat eine recht spezielle Vorliebe. Er genießt es, wenn er seine Frau Roberte in den Armen eines anderen beobachten kann. Voyeuristisch genießt er ihr Genießen. Er kann es nicht nur ertragen, betrogen zu sein, sondern er strebt es geradezu an. Wir haben es bei Oktave also mit einem prototypischen Vertreter der Menschheit, die betrogen sein will, zu tun.
Nun können wir uns natürlich fragen, ob es sich bei Oktave überhaupt um ein Betrogen-Sein handelt. Wenn er es wiederholt wünscht, Roberte hingegeben an einen anderen zu beobachten, weiß er doch spätestens ab dem zweiten Mal bereits im Vorhinein, was ihm bevorsteht. Das klingt nicht nach einem Betrug. Denn zum Betrogensein gehört ein Nicht-Wissen. Der Beseitigung des Nicht-Wissens widmet sich die Wissenschaft. Indem sie das Nicht-Wissen beseitigen will, stellt sich die Wissenschaft dem Betrug und dem Betrogensein entgegen. Bemerkenswerterweise stützt sie sich dabei auch auf Methoden, die an Klossowskis bzw. Oktaves Arrangement erinnern.
Zwei Pioniere der Sexualforschung, Virginia Johnson und William Masters, haben sich in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts ausgiebig mit dem Nicht-Wissen in der Liebe, speziell auf sexuellem Gebiet beschäftigt. Er, ein U.S. amerikanischer Gynäkologe, und sie, seine Assistentin, haben sich verschiedene Forschungsdesigns ausgedacht, die es ihnen gestatteten, dem Genießen anderer zuzuschauen. Masters und Johnson forderten ihre Probanden zu unterschiedlichen sexuellen Aktivitäten auf – allein oder zu zweit in einem Raum mit einem spanischen Spiegel, einem Einwegspiegel, hinter dem sich die beiden mit ihren Blicken verschanzten.
Sie haben Hirnströme, Herztöne, Pulsfrequenzen, Bewegungsabläufe, Erektionsmuster, Orgasmuslängen und Ähnliches apparatetechnisch gemessen. Sie schauten und schauten und schauten, ließen fotografieren und filmen. Und sie sammelten Daten über Daten.
Und haben sie gefunden, was sie suchen? Ließ sich das Nicht-Wissen, mit dem es die beiden ForscherInnen aufgenommen haben, verringern? In der Öffentlichkeit wurden ihre Forschungen zunächst kritisch rezipiert, später als Grundstein zur Behandlung sexueller Funktionsstörungen anerkannt. Die Ergebnisse ihrer physiologischen und zum Teil auch psychologischen Untersuchungen füllten offensichtlich eine Lücke. Ob sie aber dort hinein gekommen sind mit ihren Blicken, wohin sie wollten, ob für sie das am Genießen sichtbar geworden ist, worauf sie es abgesehen hatten, das muss wohl offen bleiben.
Was sagt uns dies alles nun über die Frage nach dem Wunsch der ganzen Menschheit, betrogen zu sein? Der Wunsch betrogen zu sein oder nicht, hat mit der Liebe und mit dem Genießen zu tun. Und mit dem Nicht-Wissen. Soviel steht wohl fest. Manche wollen es genau wissen, andere nicht. Manche versuchen sich dem Betrogensein zu widersetzen, indem sie immer mehr wissen wollen, andere träumen lieber von dem, was sich nicht einfach sehen lässt. Zum Beispiel im Vorspann der Serie Masters of Sex, einer Verfilmung des Lebens von William Master und Virginia Johnson.
Auf welche Seite August Ruhs gehört, ob er lieber träumt oder noch mehr wissen will, das müssen Sie ihn selbst fragen.