In ihrem Text über Lacan und das von Neuem erfundene Unbewusste schreibt Colette Soler, dass die Psychoanalyse nicht einfach eine Kunst sei. Denn wenn sie nur eine Kunst wäre, dann ließen sich der Erfindung in der Psychoanalyse keine Grenzen setzen. Die Psychoanalyse sei ebenso sehr ein soziales Regelsystem, für das AnalytikerInnen mitverantwortlich sind und dessen Effekte auf die AnalysantInnen nicht unabhängig davon sind, wie Analyse gedacht wird (vgl. Soler 2009, VIII).
Soler hat mit diesem Gedanken einen wunden Punkt getroffen, der bei der Lektüre von Werner Bohlebers Einleitung zu einem Sonderheft der Psyche über das Unbewusste (vgl. auch für das Folgende Bohleber 2013) neuerlich spürbar wird. Bohleber beginnt mit zwei Formen des Unbewussten, mit dem verdrängten Unbewussten und mit jenem Unbewussten, das sich aus nicht verbalisierten Selbstzuständen, die dissoziiert existieren, zusammen setzt. Freud habe sich bei aller Anerkennung dieser zweiten Form vornehmlich für das verdrängte Unbewusste interessiert. Seit Freud habe sich das Verständnis des Unbewussten allerdings erweitert. Bohleber nennt neben dem dynamischen und dem nicht-verdrängten noch ein kreatives Unbewusstes. Das nicht-verdrängte Unbewusste bestehe aus frühen Phantasien, frühen Objektbeziehungen (in Form von Repräsentanzen und inneren Objekten), aus der körperlich verankerten sensomotorischen Koordination, aus Interaktions- und Handlungsschemata, aus unausgesprochenen Erwartungen, aus Bindungsverhalten im Sinne eines impliziten relationalen Wissens. Die dritte Form, das kreative Unbewusste, verweise auf das romantische Erbe in Freuds Theorien. Es stehe in Zusammenhang mit der Balance, die das Unbewusste aufrecht zu halten suche, mit der stabilisierenden Funktion unbewusster Phantasien, mit der Problemlösungskapazität von Träumen, einer von Bion beschriebenen Transformation von Erfahrung im Traum.
Historisch und auch systematisch stellt Bohleber einzelne Entwicklungen des Begriffs des Unbewussten klar dar und leistet damit eine (angesichts der Fülle der vorhandenen Koordinaten notwendigerweise unvollständige) Standortbestimmung. Sein Text ist daher gut geeignet, einige Überlegungen anzuknüpfen.
Auffallend ist, dass die Modifikationen, die Bohleber beschreibt, keine geringfügigen sind. Das Unbewusste als eine Folge von konflikthaften Entwicklungen des Subjekts ist etwas deutlich anderes als ein System von Zustandsdifferenzen. Angesichts der Fülle von Modellbildungen, die sich an das nicht-verdrängte Unbewusste anschließen, ist der Eindruck wohl berechtigt, dass die psychoanalytische Forschung sich heute weniger mit dem verdrängten als mit dem nicht-verdrängten und dem kreativen Unbewussten beschäftigt. Das gibt zu denken. Wir können selbstverständlich jeden Begriff des Unbewussten prägen und etwa auch Pflanzen oder Tieren ein Unbewusstes zuordnen. Weg mit dem verräterischen Anthropozentrismus. Gleichgewichte werden an vielen Stellen der Welt aufrecht erhalten. Und Bewusstsein ist selten dabei. Der kunstvollen Erfindung von neuen, zu erforschenden nicht bewussten Regionen sind von daher keine Grenzen gesetzt.
Es ist dabei nicht zu übersehen, dass mit der Verschiebung weg vom verdrängten zum nicht-verdrängten und kreativen Unbewussten eine Bewegung von der Negation zur Position verbunden ist. Auch wenn das verdrängte, ödipal gestaltete Unbewusste nicht völlig von der Bildfläche verschwindet, führen die beiden anderen Typen des Unbewussten in ein – systematisch betrachtet – völlig neues Feld: Nicht Einschnitt, Mangel, Verbot stehen im Vordergrund, sondern Setzung, Wissen, Gegebenheit. Das moderne Unbewusste scheint sich mehr mit der Lösung als mit dem Rätsel zu verschwistern. Es scheint dem Somatischen näher als dem Psychischen. Es kehrt (etwa in habitualisierten Bewegungen) ständig wieder, ohne besonders widerständig zu sein.
Eine mögliche Annäherung an die Verschiebung besteht in der Untersuchung ihrer Motive. Wird mit dem modernen Unbewussten einer Veränderung im Selbstverständnis des Subjekts Rechnung getragen? Oder folgen PsychoanalytikerInnen einer aktuellen Tendenz, sich vornehmlich auf, im Vorhinein eng definierte Zustände des Fleisches zu berufen, wie es in der medizinischen Forschung derzeit üblich ist? Ist der Wunsch nach Anerkennung in einer am nachweisbaren Erfolg ausgerichteten, gegenwärtigen Forschungslandschaft Anlass für eine Neuorientierung psychoanalytischen Forschens? Oder sind es klinische Phänomene, die mit den Freudschen Paradigmata nicht erfasst werden können und die daher die Verschiebung eines etablierten Begriffs erforderlich machen?
Die begrifflichen Formen des Unbewussten bestimmen die Analyse selbst. Sie formen Unbewusstes. Lacan hat die beschriebene Verschiebung im Laufe seiner Lehre mitvollzogen. Soler hat den Weg, den er zurück legt von einem symbolischen zu einem realen Unbewussten, sorgfältig nachgezeichnet.
Literatur:
Bohleber, Werner (2013): Editorial, in: Das Unbewusste. Metamorphosen eines Kernkonzepts. Sonderheft der Psyche 09-10 / September 2013, 207-216.
Soler, Colette (2009): Lacan. L’inconscient réinventé. Paris: PUF.