Gedankensprung

Das Unbewusste strukturiert als eine Sprache anzusehen, war einige Zeit lang ein Interesse Lacans. Im engeren Sinn wollte er damit Signifikanten als Elemente des Unbewusste begreifen, die auf Basis des im Unbewussten vorherrschenden Primärvorganges gegenüber verschiedenen Signifikaten frei verschieblich flottieren. Die Bewegung, in welcher ein Signifikant von einem Signifikat zu einem anderen gelangt, lässt sich sprachlich als Übertragung begreifen. Das Unbewusste, strukturiert als eine Sprache, ist eine Versammlung von potentiellen Metaphern.

Eine Metapher ist, vereinfacht gesagt, ein Wort, das eine neue, ungewohnte Bedeutung trägt. Wie können wir uns diesen, oftmals als Sprung gedachten Prozess der Metaphorisierung im Unbewussten genauer vorstellen? Lacan hat Formeln erfunden, die einzelne Facetten der Metaphorisierung verständlich machen sollen (vgl. dazu auch Kadi 2011). Die oben angeschriebene findet sich in seinem dritten Seminar über die Psychose (Lacan 1981) und dem zugehörigen Text in seinen Schriften (Lacan 1966a). Sie besagt, dass ein Signifikant S einen Signifikanten S‘ ersetzt, wobei ihm eine zunächst unbekannte (x), sich als neue (s) erweisende Bedeutung zukommt, die vom Imaginären I geprägt ist. Diese etwas trockene, linguistisch anmutende Notation lädt Lacan auch familial auf, indem er sie in folgender Weise anschreibt:

Wie können wir uns in unserem Sprechen den permanent ablaufenden unbewussten Prozess der Metaphorisierung nun zurecht legen? Nehmen wir als Beispiel einen Ausschnitt aus einem Lied von Trio Lepschi:

„Sag‘ mir holde Maid aus Wulkaprodersdorf,
wann ich endlich Deine Wulka prodern doarf?“

Wulka, der Teil eines Ortsnamens in der ersten Zeile, wird in der zweiten Zeile zu einem Wort mit einer unbekannten Bedeutung, einer Metapher. Das bedeutet, dass wir den Signifikanten Wulka einsetzen können in die erste Formel:

Wulka, so könnte man zu Recht einwenden, ist allerdings keine Metapher, denn Wulka ist kein bekanntes Wort, dem eine neue Bedeutung zukommt, sondern ein Neologismus. Die Wulka dennoch als Metapher anzusehen, kann sich darauf stützen, dass Übergangsfiguren zwischen verschiedenen rhetorischen Figuren  existieren. So rücken in dem Moment, wo eine Wulka vermittels ihrer Klangähnlichkeit mit der Vulva erstmals und insofern auch neu eine Bedeutung bekommt, die außerhalb von Wulkaprodersdorf funktioniert, die metaphorischen Aspekte des Ausdrucks in den Vordergrund. Auf den ersten Blick wäre Lacans Formel also in der Lage, uns verständlich zu machen, wie der metaphorische Gebrauch eines halben Ortsnamens eine neue Bedeutung generiert.

Auf den ersten Blick. Denn Lacan bleibt wie so oft nicht bei einer Argumentation stehen, sondern schöpft aus einer Formulierung bereits die nächste. Hinsichtlich der Metapher kreiert er wenige Jahre später in einer Intervention auf einem rechtsphilosphischen Kongress eine leicht modifizierte Formel (Lacan 1966b):

Aus dem durchgestrichenen alten Signifikanten S‘ werden hier nun zwei alte Signifikanten.  Sie sind nicht durchgestrichen. Und das neue Signifikat s wird gar zu s“. Was er damit bedeuten will, macht Lacan im Text dadurch klarer, dass er selbst eine metaphorische Bildung in seine Formel einsetzt. Er nimmt das Metaphernbeispiel eines Kollegen auf. Ein „Ozean falscher Gelehrsamkeit“ ist zweifellos eine Metapher.

Für die Wulka würde die entsprechende Formulierung heißen:

Das ist offensichtlich nicht dieselbe Formalisierung der Genese einer metaphorischen Bedeutung wie mittels der ersten Formel. Denn im zweiten Fall ist es der Kontext, der die Wulka zu einer Metapher macht, und nicht wie oben das Wegdrängen eines vorhergehenden Signifikanten. Und anstelle des neuen Signifikats steht gar nur ein Fragezeichen. Übersetzt ließe sich das so verstehen: Die Bedeutung einer Metapher bestimmt sich kontextuell und bleibt doch stets in Frage. Was wir als eine Wulka ansehen, ist etwas Neues, zu dem das „Prodern dürfen“ dazu gehört. Und selbst, wenn wir prodern dürfen, wissen wir gar nicht genau, was eine Wulka ist.

Pitzler würden Lacan angesichts einer solchen frei flottierenden Argumentationsweise gerne Inkonsistenz und ein Anything goes, das wohlmöglich noch gegen psychoanalytische Theorie im Allgemeinen gewendet wird, vorwerfen. Aber damit verfehlen sie mehreres: Lacan hat in seinem Reden stets strategisch und momentan auf Probleme, Fragen, Theoreme reagiert. Sein Reden ist – im zweiten, hier vorgezeigten Sinn – oft metaphorisch, kontextuell verankert, nur am Ort seiner Äußerung gut funktionierend und meist bereits am Sprung in die nächste, oft unverbunden imponierende Behauptung. Lacans Gedankensprung stößt vor allem Gedanken an. Dass dabei jede Menge von Missverständnissen vorgezeichnet ist, ist für eine Theorie der Psychoanalyse als einer Praxis, in der das Missverständnis in der Regel als produktiv anzusehen ist, kein Fehler, sondern eine Notwendigkeit.

Jegliches Festhalten an einzelnen Behauptungen Lacans, wie sie an vielen Orten psychoanalytischer und kulturtheoretischer Rezeption üblich ist, erweist sich vor diesem Hintergrund als fragwürdig.

Literatur:

Kadi, Ulrike (2011): Salade de pensées. Implications d’un débat autour de la métaphore entre Lacan, Laplanche, Leclaire et Lyotard, in: Revue française de psychanalyse Numero 75, 2011/1, 169-184. Dtsch.: Gedankensalat. Implikationen eines Streits um die Metapher zwischen Lacan, Laplanche/Leclaire und Lyotard, in: Panteliadou, Sophia / Elisabeth Schäfer (Hg.): Gedanken im freien Fall. Vom Wandel der Metapher. Wien: Sonderzahl 2011, 167-185.
Lacan, Jacques (1981): Das Seminar. Buch III. Die Psychosen (1955–1956). Weinheim, Berlin: Quadriga 1997 (frz.: Le Séminaire. Livre III. Les Psychoses. Paris: Seuil 1981).
Lacan, Jacques (1966a): Über einer Frage, die jeder möglichen Behandlung der Psychose vorausgeht, in: ders.: Schriften II. Weinheim, Berlin: Quadriga, 2. Aufl. 1991, 61-117 (frz.: D’une question préliminaire à tout traitement possible de la psychose », in: Écrits, Paris: Le Seuil 1966, 531-583).
Lacan, Jacques (1966b): Die Metapher des Subjekts, in: ders.: Schriften II. Weinheim, Berlin: Quadriga, 2. Aufl. 1991, 56-59 (frz.: La métaphore du sujet, in: Ecrits. Paris: Seuil, 2. Aufl. 1966, S. 889-892).

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