Dürfen, Können oder Träumen

Zwei Bilder aus der Arbeitswelt. Sie differieren in vielerlei Hinsicht. Sie stammen nicht aus derselben Zeit. Auf dem oberen, wohl älteren Photo  posiert eine kleine Gruppe, unten ein einzelner Mann. Die Gruppe von Arbeitern macht einen melancholischen Eindruck, der Unternehmer lässt an einen manischen Zustand denken. Die Form ihrer Selbstdarstellung korreliert mit ihrer (supponierten) affektiven Befindlichkeit. Denn Melancholie führt zu einer Erstarrung, die manisch gehobene Stimmungslage hingegen macht übermäßig beweglich.

Der französische Soziologe Alain Ehrenberg beschäftigt sich seit langem mit der Tatsache, dass sich die Beschreibung dessen, was einen Menschen wesenlich ausmacht, geändert hat. Aus dem homme coupable (dem schuldigen Menschen) ist ein homme capable (ein handlungsfähiger Mensch) geworden (vgl. Ehrenberg 2011). Im Zentrum dieser Neubeschreibung steht die Autonomie. Ehrenberg hat viel Zustimmung dafür erhalten, dass er Depressionen (psychopathologisch die Kehrseite von Manien) als Folge eines gesellschaftlichen Zwangs zur Autonomie begreift. Dieser Zwang charakterisiere moderne, neoliberale Gesellschaften. Paradigma des modernen Individuums, so ließe sich Ehrenberg lesen, ist nicht länger der unterdrückte Arbeiter, sondern ein ständig mit seiner Autonomie beschäftigte (und daran depressiv scheiternde) Kleinunternehmer.

Später und über diese These hinausgehend, hat Ehrenberg die vorherrschenden epistemologischen Gepflogenheiten im Umgang mit dem Thema der Autonomie kritisiert. In seiner Kritik zielt er unter anderem auf die Psychoanalyse. „Die Wertschätzung der Autonomie ist der Kern auch der Neubewertung von Subjektivität, Gefühlen, psychischem Leid“ (Ehrenberg 2011a, 56). Alles ist neu. Die Psychoanalyse hingegen – und Ehrenberg meint hier Freud ebenso wie Lacan (vgl. Ehrenberg 2009) – sei einem inzwischen veralteten Paradigma der Disziplin verpflichtet. „In einer disziplinarisch organisierten Gesellschaft lautete die Frage noch: »Darf ich das?« Wenn Autonomie zum beherrschenden Zug der Gesellschaft wird, lautet sie dagegen: »Kann ich das?«“ (Ehrenberg 2011a, 54f.).

Ehrenberg lehnt es ab, über Individuen vor allem als individuelle Subjekte mit psychischen Ausstattungen nachzudenken. Das sei keine im engeren Sinn soziologische Perspektive. „Die Hauptaufgabe für eine wirkliche Soziologie des Individualismus besteht darin, die Psychologie loszuwerden“ (Ehrenberg 2011a, 60). Mit der Psychologisierung der Individualisierung, als deren Protagonisten Ehrenberg auch PsychoanalytikerInnen sieht, werde das Problem nur perpetuiert. Zu Freuds Zeiten sei die Gesellschaft als Träger eines Verbots, dessen Nicht-Einhaltung schuldige Subjekte generiert hat, noch Ursache von psychischen Erkrankungen gewesen. Heute hingegen wären psychische Beeinträchtigungen nicht mehr Folge einer (misslungenen) Auseinandersetzung des Subjekts mit der Gesellschaft, sondern sie seien Teil der sozialen Handlungsfähigkeit von Individuen (vgl. Ehrenberg 2011).

Auf den ersten Blick ist seine Schlussfolgerung nachvollziehbar: Wenn es nicht mehr darum geht, die neurotischen Bildungen, die in Konfrontation mit einem Verbot auftreten, zu analysieren, ist die Aufgabe der Psychoanalyse unklar. Für Freud waren es jedenfalls die Neurosen, die er als Kerngebiet einer psychoanalytischen Behandlung betrachtete. Depressive Bildungen im eigentlichen Sinn gehören im Unterschied zur Melancholie, bei der auch im Verlust eine Relation zum Anderen aufrecht erhalten wird, in den psychotischen Formenkreis. Hat Psychoanalyse angesichts eines Überhandnehmens von depressiven Bildungen also ausgespielt?

Nein. Ehrenberg übersieht nämlich einiges. Er übersieht, dass die Veränderung der subjektiven Strukturierung auch in der Psychoanalyse bemerkt worden ist. Die hier mehrfach erwähnte Feststellung Lacans aus den frühen Sechziger Jahren, dass der Andere seine konstitutive Rolle eingebüßt hat, steht für nichts anderes als für eine Verabschiedung eines Disziplinierungsmodells. Auch die objektbeziehungstheoretische Fokussierung von frühen Störungen (d.h. von Störungen, deren Ausgangspunkt vor einer Strukturierung durch Auseinandersetzung mit einem Namen des Vaters anzunehmen ist), nimmt etwas von der von Ehrenberg beschriebenen Schwierigkeit auf. Ob sie damit ebenso weit geht wie Lacan in seiner Theorie des Sinthoms, wäre zu diskutieren.

Was Ehrenberg vor allem übersieht, wenn er statt individueller Analyse kollektives empowerment (vgl. Ehrenberg 2011) favorisiert, ist die Fähigkeit eines Individuums zu träumen. Gesellschaften können als solche nicht träumen. So wenig wie Tische, Kerzen oder Anoraks träumen können. Ehrenbergs Verabschiedung der individuellen psychischen Perspektive würde einer Gesellschaft den Blick auf die Träume verstellen. Subjekte wären nichts anderes als Tische, Kerzen oder Anoraks. Die phantasmatischen subjektiven Bildungen, die sich in Träumen und im Sprechen über Träume zeigen, blieben unzugänglich, weil sie ausgeblendet würden. Ehrenberg schüttet mit seiner epistemologischen Kritik das Kind mit dem Bade aus: Die Unterscheidung zwischen Melancholie und Depression, auf die er aufbaut, wäre unter seinen eigenen Voraussetzungen gar nicht zu treffen.

Literatur:

Ehrenberg, Alain (2009): Arrêtons les conflits inutiles, in: Les Tribunes de la santé 2009/1 (n° 22), 146-147.
Ehrenberg, Alain (2011): Das Unbehagen in der Gesellschaft – oder wie sich Freiheit und Angst verbinden, siehe streitraum.
Ehrenberg, Alain (2011a): Depression: Unbehagen in der Kultur oder neuie Formen der Sozialität, in: Menke, Christoph / Julia Rebentisch (2011): Kreation und Depression. Freiheit im gegenwärtigen Kapitalismus, Berlin: Kadmos Verlag, 52-62.

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