Der Gefühlsschrank

Emmi Rothner schreibt an Leo Leike: „Rücke nur ja nie den Schlüssel zu deinem Gefühlsschrank heraus, mein Lieber“. Und er antwortet ihr zwölf Minuten später: „Fühlen ist niemals Betrug, liebe Emmi. Erst wenn man Gefühle auslebt und jemand anderen darunter leiden lässt, hat man etwas Falsches gemacht“ (Glattauer 2009, 135).

In zeitgenössischen e-mail-Romanen lässt sich das Reden über Gefühle nach wie vor gut verkaufen. In der psychoanalytischen Theorie erweist es sich dagegen seit langem als nicht leicht, den Affekt theoretisch zu fassen. Die Psychoanalyse verfügt über keine kohärente Gefühlstheorie (Wegener 2009). Und der Affekt wurde innerhalb der Psychoanalyse vor Jahrzehnten benutzt, um theoretische Herangehensweisen voneinander zu unterscheiden und zu trennen (Green 1973). Die innere Heterogenität psychoanalytischer Ansätze zu den Affekten mag ein Grund dafür sein, weshalb psychoanalytische Positionen in zeitgenössischen Anthologien unberücksichtigt bleiben (vgl. als Beispiel Landweer/Renz 2008). Auch bei einer, im Kontext empirischer Psychotherapieforschung bisweilen geforderten, bruchlosen Eingliederung der Psychoanalyse in einen medizinischen Diskurs gibt es Probleme mit dem Affekt, wird dieser in solchen Diskursen doch mit dem Effekt einer Erregung von Gehirnarealen (Panksepp 1998, Solms, Turnbull 2002) verwechselt , was sich schon allein im Hinblick auf den affektiven Gehalt der e-mails zwischen Emmi und Leo als fragwürdig erweist .

Die Schwierigkeiten der Psychoanalyse mit den Affekten reichen bis zu Freud zurück. Rapaport schreibt von drei Phasen: während der ersten Phase trennt Freud noch nicht deutlich zwischen der Psychoanalyse und der kathartischen Methode seiner Hypnoseanwendung. Während der zweiten Phase, die 1900 beginnt, ordnet Freud seine Erkenntnisse in metapsychologischer Hinsicht und betont den ökonomischen Gesichtspunkt seiner Anschauungen. Die Neuordnung während der dritten Phase verdankt sich dem Übergang von der ersten zur zweiten Topik. Zu jeder Phase gehört eine spezielle Auffassung  vom Affekt: Zuerst setzt Freud Affekte mit Triebbesetzungen gleich. Dann betrachtet er sie als Triebrepräsentationen, die die Entladung der Besetzungen verhindern und schließlich werden sie zu Ichfunktionen, zu Signalen für das Ich (vgl. Rapaport 1953, 187).

Die innere Diversität von Freuds Position den Affekten gegenüber ist in die Weiterentwicklung psychoanalytischer Theoreme zu den Affekten eingeflossen (vgl. Kadi 2012). Während den (oft als unbewusste verstandenen) Gefühlen in den kleinianischen und postkleinianischen Konzepten wegweisende Funktion zum Verständnis von Zuständen, Übertragungssituationen und Bedeutungskontexten zugeschrieben wird, wird in vielen Lacanschen Fassungen der Psychoanalyse zur Vorsicht den Affekten gegenüber geraten. Dies droht einer gewissen affectophobia lacanica Vorschub zu leisten. Selbst wenn Affekte als Symbole im Wartestand (Fink 2004, 52) aufgefasst werden, gelten sie dem Affektophoben doch vor allem als Täuschung und Verführung ins Falsche. Lacans Auffassung des Affekts war indes nicht so einseitig, wie sie seine Gegner (Green 1973) und seine späten SchülerInnen gerne stilisierten. Er betont mehrfach, er habe den Affekt nie vernachlässigt (als Beispiel: Lacan 1974, 37f.). Und tatsächlich lassen sich in seinem Œuvre jede Menge Affekte von der Angst als einem Ausnahmeaffekt, der Traurigkeit und dem fröhlichen Es-Wissen (le sçavoir), der Schuld, dem Glück, der Langeweile, der Leidenschaft (zu sein), dem Zorn bis hin zur Scham (zu leben) finden. Diese Affekte können geordnet werden (Soler 2011) – z.B. gemäß ihrem Verhältnis zur Kastration oder zu jenen Affekten, die eine Epoche bestimmen.

Glattauers Gefühlsschrankmetapher hätte sich Lacan wohl trotzdem widersetzt: Gefühle in seinem Sinn sind keine Wäschestücke. Sie finden sich genauso wenig wie Signifikanten in irgendeinem nach Mottenpulver riechenden, abgeschlossenen Raum, aus dem sie nicht heraus können und von dem aus sie als sogenannte wahre Gefühle wirken.

Lit.:
Fink, Bruce (2004): Lacan to the Letter. Reading Écrits closely. Minneapolis: University Press.
Glattauer, Daniel (2009): Alle sieben Wellen. Wien: Deuticke.
Green, André (1973): Le discours vivant. Paris: PUF.
Kadi, Ulrike (2012): Es müssen Fragen bleiben. Zur nicht geschriebenen psychoanalytischen Theorie der Affekte, erscheint in: Elisabeth Mixa und Patrick Vogl (Hg.): E-Motions. Transformationsprozesse in der Gegenwartskultur, turia + kant, Wien.
Lacan, Jacques (1974): Télévision. Paris: Seuil.
Panksepp, Jaak (1998): Affective Neuroscience: The Foundations of Human and Animal Emotions. New York: Oxfort University Press.
Rapaport, David (1953). On the Psycho-Analytic Theory of Affects, in: International Journal of Psycho-Analysis, 34, 177-198.
Renz, Ursula (2008) (Hg.): Spinoza: Philosophische Therapeutik der Emotionen, in: Landweer, Hilge / Ursula Renz (2008): Klassische Emotionstheorien. Von Platon bis Wittgenstein. Berlin, New York: De Gruyter,  309-330.
Soler, Colette (2011): Les affects Lacaniens. Paris: PUF.
Solms, Mark / Oliver Turnbull (2002): Das Gehirn und die innere Welt. Neurowissenschaft und Psychoanalyse. Düsseldorf, Zürich: Walter Verlag 2004.
Wegener, Mai (2009): Warum die Psychoanalyse keine Gefühlstheorie hat, in: Fehr, Johannes, Gerd Folkers (Hg.): Gefühle zeigen. Manifestationsformen emotionaler Prozesse. Edition Collegium Helveticum, Band 5. Zürich: Chronos Verlag, 143-162

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