Sehr geehrter Herr Doktor Spielvogel!
Heute lese ich in einer österreichischen Qualitätszeitung (Anmerkung der Redaktion: Der Standard), dass Psychotherapien Nebenwirkungen haben können. Mein Analytiker hat mir davon zu Beginn meiner Behandlung nichts gesagt und auch bis jetzt keinen Beipackzettel ausgehändigt. Soll ich zuerst den Psychotherapeuten wechseln oder soll ich mich gleich an die Beschwerdestelle im Bundesministerium wenden? Was empfehlen Sie mir?
Bitte um rasche Antwort, da ich heute eine Therapiesitzung habe, vor welcher ich unbedingt klären muss, wie ich mich verhalte.
Ihre ergebene M.H. (Name der Redaktion bekannt)
Sehr geehrte Frau H.,
vielen Dank für Ihre Zuschrift! Bevor Sie sich entscheiden, wie Sie vorgehen, möchte ich Ihnen umgekehrt einige Fragen stellen:
Stellen Sie sich vor, zwei Menschen haben eine Psychotherapie bei zwei verschiedenen PsychotherapeutInnen – beide Vertreter einer in Österreich anerkannten Psychotherapiemethode – begonnen. Nehmen wir an, die beiden Patientinnen, Frau A. und Frau B., lassen sich gut vergleichen, denn beide leiden sie unter unerklärlichen Schmerzen, fühlen sich depressiv, leben – wiewohl über 30 Jahre alt – noch bei ihren Eltern. Beide sind ohne Arbeit und haben seit langem keine engere Beziehung mehr eingehen können.
Nach einem Jahr Behandlung nimmt Frau A., die dem Druck vom AMS und den Forderungen ihrer Eltern, die sie seit vielen Jahren finanziell unterstützen, nichts entgegensetzen kann, schließlich wieder eine Arbeit in der Firma des Vaters an. Die manuelle Tätigkeit interessiert sie wenig, dient ihrer Ansicht nach vorwiegend dazu, ihre größten Geldnöte zu beheben. Sie beendet die Psychotherapie – nicht zuletzt um Geld zu sparen. Vom Praktischen Arzt erhält sie eine medikamentöse antidepressive Therapie, da sie sich nach wie vor häufig lustlos fühlt und aufgrund von einer Antriebsstörung oft in Krankenstand ist.
Frau B. verliebt sich sehr in ihren Therapeuten. Nach zwei Jahren Behandlung wird immer deutlicher erkennbar, dass bei Frau B. eine ausgeprägte Autonomie- und Abhängigkeitsproblematik besteht. Die Schmerzen, deretwegen sie die Behandlung begonnen hat, treten in den Hintergrund. Auf Druck der Eltern, die die Behandlung von Frau B. teilweise mitfinanziert haben, beendet Frau B. jedoch nach zwei Jahren innerhalb von zwei Wochen die Behandlung, ohne dass sich die Übertragung, welche sich im Laufe der Behandlung entwickelt hat, lösen kann. Frau B. zieht sich in der Folge verstärkt zurück.
Im Rahmen einer Studie zur Effizienzanalyse von Psychotherapie erhalten Frau A. und Frau B. einen Fragebogen, auf dem sie ihre Zufriedenheit mit ihrer Psychotherapie auf einer Skala von 1-5 (1=sehr zufrieden, 5=unzufrieden) angeben sollen. Frau A. und Frau B. kreuzen beide 4 an. Als Grund für ihre mangelnde Zufriedenheit fügt Frau A. hinzu, dass sie zwar wieder zu arbeiten begonnen habe, ihre Depression aber nun erst recht mit Medikamenten behandelt werde. Frau B. schreibt, dass sie sich von ihrem Therapeuten abhängig gefühlt und er ihr zu wenig Halt gegeben hat.
Meine Fragen an/für Sie: Halten Sie die Unzufriedenheit der beiden Frauen für eine Nebenwirkung der Behandlung? Oder ist die Unzufriedenheit einer der beiden Frauen wohlmöglich als eine Wirkung der Behandlung zu verstehen? Ist die von Frau A. hervorgehobene Rückkehr ins Arbeitsleben eine erwünschte Wirkung/Nebenwirkung der Behandlung? Sollen wir die erlebte Abhängigkeit von Frau B. als eine unerwünschte Nebenwirkung der Behandlung auffassen? Und last not least: Welcher Wunsch mag sich wohl in Ihrem Gedanken verstecken, dass Sie über mögliche Nebenwirkungen nicht informiert wurden, was Sie nun gar überlegen lässt, Ihre Behandlung abzubrechen?
Sigmund Freud, auf den in der Printausgabe des Standardartikels durch ein Bild seines Behandlungsraumes verwiesen wird, hatte nie ein anderes Ziel der Behandlung „als die praktische Genesung des Kranken, die Herstellung seiner Leistungs- und Genußfähigkeit“ (Freud 1904, 7). Dieses Ziel ist allerdings nicht bei allen Menschen gleich rasch zu erreichen – wohl auch deswegen, weil in einer unerwünschten Nebenwirkung oft ein Wunsch verborgen ist, verkleidet als ein UnerWUNSCH.
Mit den besten Wünschen für Sie und Ihre Entscheidung
verbleibe ich
Dr. Spielvogel
Zum Nachlesen noch der genaue Hinweis auf das Zitat: Es stammt aus Freud, Sigmund (1904): Die Freudsche psychoanalytische Methode, in: GW V, 3-10.