Vor der Psychose soll ein Analytiker auf keinen Fall einen Rückzieher machen: « La psychose, c’est ce devant quoi un analyste, ne doit reculer en aucun cas. » (Jacques Lacan, « Ouverture de la section clinique », le 1er janvier 1977, Ornicar ?, n° 9, 1977, S. 7-14.)
Warum sollten AnalytikerInnen einen Rückzieher vor der Psychose machen? Freuds Vorstellung von der psychoanalytischen Unbehandelbarkeit der Psychose waren Jahrzehnte früher formuliert und inzwischen durch eine wachsende Tradition psychoanalytischer Psychosenbehandlung widerlegt. Was hatte Lacan im Blick, wenn er PsychoanalytikerInnen ein Zurückweichen vor der Psychose unterstellt?
Der zitierte Satz wird vielleicht ein bisschen besser verständlich vor dem Hintergrund eines shifts in Lacans eigenen Vorstellung von der Psychose, im Rahmen derer er seine Position als Theoretiker (und auch als Praktiker) schwächt. Während Lacan nämlich in den Fünfziger Jahren im Rahmen einer Lektüre von Freuds Schreber-Text, den er in seinem Seminar III und in seinem Artikel Über eine Frage, die jeder Behandlung einer Psychose vorausgeht kommentiert, die psychotische Struktur vor allem mit einem singulären Ausfallen der väterlichen Funktion, einer individuell fehlenden Annahme der Vatermetapher durch ein werdendes Subjekt in Zusammenhang bringt, baut seine spätere Theorie der Psychose in den Siebziger Jahren rund um das Sinthom auf einem allgemeinen Ausfall der Vaterfunktion auf: Es existiert kein großer Anderer, der die Vaterfunktion stützt und auf den sich Strukturen beziehen könnten. Jedes Subjekt schafft sich seine eigene kreative Lösung.
Ian Parker hat Folgen dieser grundlegenden Veränderung des Ansatzes in seinem Beitrag der heurigen Annual Conference of CFAR: Psychosis – Lacanian Perspectives berührt. Nicht nur das strukturstabilisierende Sinthom ist ihm zufolge als individuelle Kreation anzusehen, sondern jede Form von Produktion, zu der auch die psychoanalytische Theorie selbst gehört. Freud hätte unter diesem Blickwinkel nichts entdeckt, sondern alles erfunden. Psychoanalyse als Kunstwerk.
Als Beispiel einer solchen kreativen Arbeit führte Parker eine Arbeit von Zoe Beloff an. Die Künstlerin hat vor wenigen Jahren ein Buch veröffentlicht, in dem sie die Geschichte einer bislang wenig bekannten amerikanischen psychoanalytischen Gesellschaft darstellt. Dem Buch beigelegt findet sich einiges Filmmaterial aus der frühen Zeit der Gruppe: The Coney Island Amateur Psychoanalytic Society. Dream Films 1926-1972. Nur den LeserInnen des Buches enthüllt Beloff, dass es sich bei der Veröffentlichung um ihre individuelle kreative Produktion handelt.
Hier taucht eine Schwierigkeit, die in einer so radikal verstandenen Theorie des individuellen Sinthoms liegt, auf: LeserInnen oder FilmbetrachterInnen lernen vielleicht ihre eigene Kritiklosigkeit, ihre Bereitschaft, anderen zu glauben, kennen. Aber diese Einsicht macht in spezieller Weise hilflos. Denn Kritik an Positionen, an Konzepten und an klinischen Überlegungen wird schwierig, ja unmöglich, wenn es nichts mehr zu entdecken und alles zu erfinden gilt.