Geschlecht und sexuelle Freiheit

Folgendes Buch lohnt die Lektüre: Der Sexuologe Volkmar Sigusch hat eine Textsammlung veröffentlicht, die vor allem durch ihre Unaufgeregtheit besticht in Feldern, in denen gegenwärtig unter viel Lärm mit alten Ordnungen abgerechnet wird. Da werden etwa feinere Unterscheidungen eingebracht in die Debatte um Missbrauch und Pädophilie. Sigusch unterscheidet zwischen verschiedenen Profilen von Missbrauchstätern, zwischen verschiedenen

Institutionen, in denen Missbrauch Unterschiedliches bedeutet, zwischen verschiedenen Zeiten, zu denen Missbrauch thematisiert werden kann oder verschwiegen werden muss, zwischen verschiedenen zu unterschiedlichen Zeiten als pervers angesehenen Praktiken, zwischen verschiedenen Formen von Pädophilie auf einem Kontinuum von einer, die Grenzen schaffenden und wahrenden erwachsener Zuwendung bis hin zur suchtartigen Fixierung, zwischen verschiedenen Paradigmata zur kulturellen Einbettung der Sexualität, die in den vergangenen 200 Jahren zum zentralen Repertoire des Selbstverständnisses der Subjekte in Nordamerika und Europa gehört haben.  Ähnlich verfährt Sigusch hinsichtlich der Bisexualität. Da unterscheidet er vier Bisexualitätsbegriffe (philosophisch anthropologisch, biologisch somatologisch, psychoanalytisch seelentheoretisch, sozologisch sexualwissenschaftlich) und sechs Formen der Bisexualität (Strukturbisexuelle, Verhaltens-Bisexuelle, Übergangsbisexuelle, Konfliktbisexuelle, Exklusivitätsbisexuelle, Kompensationsbisexuelle, Flexibilitätsbisexuelle).

Und manchmal haben diese Unterscheidungen auch ironischen Charakter, wie diejenige zwischen Trans- und Zissexuellen. Letzterer ist durch ein Zusammenfallen von Körpergeschlecht und Geschlechtsidentität gekennzeichnet. „Der Begriff dient also dazu, etwas scheinbar Natürliches zu hinterfragen. Es ist keine Selbstverständlichkeit, mit einem weiblichen Körper so zu fühlen und zu empfinden, wie es zu einer bestimmten Zeit und in einer bestimmten Kultur bei allen Frauen angeblich der Fall sei“ (Sigusch  2011,102).  Die alte Sexuologie kannte den Ausdruck „Cisvestiten“ als eine Pathologie,  im Rahmen derer sich jemand zwecks Verschleierung seiner Herkunft oder seines Standes mit Kleidern des erstrebten Ranges schmückte, wobei Sigusch ausdrücklich betont, dass er mit der Inflation an pathologischen Phänomenen nichts zu tun haben will (ebd., 138).

Volkmar Sigusch (2011): Auf der Suche nach der sexuellen Freiheit. Über Sexualforschung und Politik. Frankfurt/M.: Campus.

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