Ödipus und die Seite der Mutter

Für den argentinischen Psychoanalytiker und Theoretiker Léon Rozitchner tritt der Ödipuskomplex in kulturell unterschiedlichen Versionen auf. Die Unterschiede manifestieren sich in den verschiedenen Bedeutungen, die den Protagonisten der Narration, d.h. Vater, Mutter und Kind, in den einzelnen Kulturen zugeschrieben werden. Freud nimmt einen griechischen Mythos auf, den er gemäß seiner jüdischen Identität aneignet. Lacan gibt dem Ödipuskomplex eine christliche Form.

Rozitchner stellt Unterschiede zwischen den drei Versionen des Ödipuskomplex im Hinblick auf ihre jeweilige Konzeption der Mutter vor. Für Jokaste sind in der griechischen Version zwei Szenen mit dem Kind zu finden: die erste, im Rahmen derer sie das Kind Ödipus auf Geheiß von Laios aussetzt – die für Rozitchner wahrhaft ödipale Tragödie. Hier findet sich der Todestrieb in Reinform mit dem Mütterlichen amalgamiert. Die zweite Szene, bei der Jokaste unwissentlich mit ihrem Sohn schläft, sieht Rozitchner vor allem als Folge der äußeren Entwicklungen.

Freuds Aneignung des Ödipusmythos aus einem jüdisch geprägten Bedeutungshorizont heraus modifiziert das Bild der Mutter, was Rozitchner allerdings nicht anhand von Ödipus, sondern am Beispiel des Moses darstellt. Freud zufolge ist Moses mit Ödipus vergleichbar. Im Unterschied zu Ödipus ist er nicht von sozial höherer Herkunft. Aber auch er wird ausgesetzt. Und sein Schicksal wird im Judentum paradigmatisch begriffen. Was Moses’ Mutter betrifft, so setzt sie diesen zwar aus, sorgt aber im Unterschied zu Jokaste dafür, dass er gefunden wird. Sie wird letztlich als Mutter unerkannt zu seiner Amme. Die nährende und dem Todestrieb entgegengesetzte Position der Mutter tritt auf diese Weise in den Vordergrund. Rozitchner meint, dass diese Bedeutung des Mütterlichen in einem jüdisch geprägten kulturellen Kontext zentral sei. (Dass auch solch eine Mutterkonzeption nicht frei von Irritation für den Sohn ist, stellt Woody Allen in seinem Film Ödipus Wrecks eindrücklich dar.)

Die christliche Version des Ödipus ist in der Biographie von Jesus Christus dargestellt. Das Schicksal seiner Mutter, ihre Verjungfräulichung, die einer Entsexualisierung entspricht und durch eine sekundäre Verherrlichung in Ritualen des Marienkults kaum kaschiert werden kann, versteht Rozitchner als Exklusion des Mütterlichen. Lacans Betonung des kriminellen Inzestwunsches der Mutter (Krokodil), ihrer das väterliche Gesetz in seiner Weitergabe deformierenden Kraft, ihrer fehlenden Signifikanz im Symbolischen – all diese Momente begreift Rozitchner ebenso wie die herausgehobene und in ihrer friedensförderlichen Kapazität von Freud abweichende Struktur eines väterlichen Gesetzes als Teile einer christlichen Umformung des Ödipuskomplexes durch Lacan. (Von der Überführung des Ödipusdramas als einem Mythos in Gestalt einer Narration in eine abstrakte Struktur, der zu folge der Ödipuskomplex bei Lacan nichts anderes markiert als den Übergang vom Bild zur Sprache, die in unterschiedlichen Phalluskonstellationen illustriert werden kann, braucht hier gar nicht die Rede zu sein. Eine solche Abstraktion lässt offensichtlich keinen Platz für das Mater-iale.) Angesichts von faschistischer Mutterverherrlichung (vgl. als ein willkürlich herausgegriffenes Beispiel Veit Harlans 1944 gedrehter Film Der Opfergang, in dem die Signifikantenkette Mutter-Erde-Kraft-Leidenschaftlichkeit-Tod in einem an Wagner gemahnenden Pathos  ins Bild gesetzt wird) erweist sich Lacans Vorsicht als geboten.

Offen bleibt die Frage einer zeitgemäßen Konzeptualisierung der mater-ialen Seite des ödipalen Dramas. Die These einer kulturspezifischen Prägung des Ödipuskomplexes scheint mir jedenfalls unabweisbar zu sein.

Einige Fragen tauchen auf:
Kann die Père-Version, die den Vater beschwörende Version des Ödipuskomplexes, Lacans vaterorientierte Lesart des Ödipuskomplexes, die gegenwärtigen Entwicklungsbedingungen des Subjekts in der sogenannten westlichen Welt noch abbilden?
Wie sehen die ödipalen Verhältnisse in anderen Teilen der Welt aus?
Ist die Privatisierung der ödipalen Strukturierung, wie sie Lacan in seiner Theorie des sinthom nahezulegen scheint, als Möglichkeit zu sehen, um gegenwärtig übliche Entwicklungen von Subjekten neu, aber nicht minder systematisch und anders als mit Mitteln des Ödipuskomplexes zu fassen?
Vgl. Léon Rozitchner: Versions of Oedipus, in: Sitegeist. A Journal of Psychoanalysis and Philosophy 4/2010, 111-128

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