In seinem Text Die Gottesanbeterin stellt Roger Caillois unter dem Stichwort „lyrische Objektivität“ folgenden Gedanken dar: das in vielen verschiedenen Kulturen bestehende Interesse an der mantis religiosa geht auf eine affektive
Bannung zurück, die dieses Tier auf den Menschen ausüben kann, weil die weibliche Gottesanbeterin die männliche Gottesanbeterin vor dem Geschlechtsakt köpft und nachher oftmals auffrisst. Sie ist ein Beispiel, wie eine materielle Verwirklichung der affektiven Möglichkeiten des Bewusstseins in der Außenwelt erkennbar wird.
Frage 1: Wie sollen wir uns das Verhältnis von materieller Verwirklichung und Bewusstsein dabei denken? Schafft das Bewusstsein diese Möglichkeiten? Oder entwickeln sich die affektiven Möglichkeiten auf Basis der materiellen Gegebenheiten? Oder sind Affekt und Materie als gleichursprünglich zu denken?
Im Interesse an der Gottesanbeterin wird für Caillois auch klar, dass der Kastrationsangst eine ganz andere Angst voraus liegt, nämlich die Angst vor einem Verschlungenwerden von einem besonderen „Mund“, von einer vagina dentata. Das erinnert an die Ängste vor dem mütterlichen Krokodil. Ähnlich wie Staercke den Penisneid als ein zunächst auf die Brustwarze gerichtetes und daher sekundäres Phänomen angesehen hat, wird bei Caillois der (eher väterlich konnotierte) Kastrationskomplex einem (eher mütterlich konnotierten) Komplex des Verschlungenwerdens nachgeordnet.
Frage 2: Welche Konsequenzen für die psychoanalytische Theorie wären zu erwarten, wenn nicht ein Primat des Phallus, sondern eine Vagina dentata die zentrale Funktion für die menschliche Entwicklung zugeschrieben bekommt?
Lit.: Roger Caillois (1934): Die Gottesanbeterin, in: ders.: Méduse & Cie, Berlin: Brinkmann und Bose 2007, 8-23.