Die weibliche Mangel

Psychoanalytisches Zuhören ist darauf angewiesen, nicht (zu schnell) zu verstehen.  Bedeutungen, die etwa über Homophonien oder Äquivokationen in ein Sprechen hineinreichen, können leichter gehört werden, wenn nicht der Zusammenhang eines Satzes verstanden werden muss. Das gilt nicht zuletzt für psychoanalytische Konzepte. Ein Beispiel hierfür ist der Mangel, der im Deutschen auch ein weibliches Geschlecht haben kann, womit sich allerdings der Sinn deutlich verschiebt:

mangel

Jacques-Alain Miller (2009) hebt hervor, dass Lacans Überlegungen zur Perversion in den Fünfziger Jahren mit einem Verständnis des Phallus  verknüpft sind, das er erst sehr viel später explizit benannt hat: der Phallus als Schein (frz.: le semblant). Ähnlich wie ein Meteor, ein Regenbogen oder ein Polarlicht ist er alles andere als ein stabiler Bezugspunkt.
Der Phallus ist in der Entwicklung des Subjekts zunächst nicht mit dem Namen des Vaters verbunden, obwohl  eine solche Auffassung den klinischen Kontext prägt,  sondern er präsentiert sich zuerst als Frage – und zwar dort, wo er fehlt: bei der Mutter als Mangel des Seins. Im Seminar IV Die Objektbeziehung (1956-1957) taucht der Phallus zwischen Fetischismus und Phobie auf. Im Zusammenhang mit der Phobie hat er für Miller die Funktion einer Wand, im Zusammenhang mit dem Fetischismus die eines Schleiers. Dem Fetischisten dient der Phallus zur Verschleierung der mütterlichen Kastration, d.h. des mütterlichen Mangels.
Miller bzw. Lacan folgen mit diesen Überlegungen Freuds Text über den Fetischismus. Eine spezielle Form männlicher Perversion lässt sich auf diese Weise erklären. Die Verallgemeinerung, die durch Lacans Anwendung des Konzepts auf Freuds junge Homosexuelle erfolgt, stößt auf bekannte Grenzen: Lacan hat in seinem Seminar IV keine im eigentlichen Sinn strukturale Auffassung des Phallus, sondern verwendet den Ausdruck Phallus immer wieder synonym für den Penis. Er verfängt sich auf diese Weise in einer androzentrischen  Betrachtung, die seine Spekulationen zu Freuds Behandlung der jungen Homosexuellen heute historisch erscheinen lassen.
Eine allgemeine Theorie weiblicher Perversion fehlt bis dato. Jenseits davon ist zu fragen, ob das Konzept des Mangels, abgesehen von den genannten offensichtlichen Verkürzungen, übertragbar ist auf Subjekte mit einer nicht in ein Fort-Da-Spiel übersetzbaren Anatomie. Oder ob die Theorie von dem Mangel für Frauen nicht eher wie einE Mangel funktioniert, die in eine begriffliche Ebene  zu pressen versucht, was in andere Dimensionen reicht.

Lit.: Jacques-Alain Miller (2009), The Phallus and Perversion, in: lacanian ink 33, 57-71.

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