Krokotaschen

Der Ödipuskomplex ist eine kulturell etablierte Form, um dem Animalischen im katastrophalen Sinn, das heißt der Mutter als einem Krokodil, zu entkommen.

Manche Frauen halten Männer für Tiere, für bestimmte Tiere, für gefährliche Hunde, kleine Schweine, starke Bären oder dumme Gockel. Der französische Psychoanalytiker Gerard Wajcman spricht von einer menschlichen Bubenmenagerie. Das sei anders als bei den alten Griechen, wo Menschen mehr mit dem Vegetabilen verbunden wurden, wo Frauen bisweilen als Vasen

und Männer als Fisolen oder andere Gemüsestücke betrachtet wurden. Wir könnten uns fragen, was dieser Wechsel vom bewegungsarmen Pflanzenreich in das bestialisch Animalische über unser Selbstverständnis besagt. Doch für die Psychoanalyse ist es mindestens ebenso wichtig, dass es Frauen sind, die Männer für bestimmte Tiere halten. Wobei nicht nur Frauen tierische Orden an Männer verleihen, sondern umgekehrt findet sich dasselbe Phänomen. Jacques Lacan spricht von der Mutter als einem Krokodil mit einem großen Maul (Lacan 1991, 129).Krokotasche

Wir kennen sie aus Bilderbüchern, von Zoobesuchen und früher oder später aus dem Fernsehen: Krokodile haben nicht nur unsere Kindheit gestaltet. Sie begegnen uns in der Werbung, im Museum, im Kino. Als könnten wir sie nicht hinter uns lassen, die Krokodile und mit ihnen die Mütter und die Phantasien über die Mütter. Was aber ist es, was speziell die Krokodile verkörpern?

Street of Crocodiles, ein Trickfilm der Brüder Quaie aus dem Jahr 1986, lässt assoziierte Krokodilsfantasien plastischer werden. Da muss der Blick zuerst durch eine hölzerne Speiseröhre hindurch, bevor er auf die Karte jener Stadt fallen kann, in der sich die Krokodilsgasse als ein heller Fleck findet. Wir fühlen uns an Innenräume des weiblichen Körpers erinnert. In der Surrealität unserer Träume tauchen solche leeren, unbegrenzten, endlos weiten Räume der Schutzlosigkeit bisweilen auf. Das Krokodil mit seinem Schlund, so können wir sagen, hält her als ein Bild, eine Projektion für etwas unnennbar Erschreckendes, was sich mit dem Gedanken des Verlorengehens in einem unüberblickbaren Raum assoziiert.

Vielleicht ist es aber noch mehr das Gehege der Zähne des Krokodils, mit dem wir einem Schaudern Ausdruck verleihen können. Der italienische Autor Tiziano Scarpa schreibt: „Essen, Zähne putzen. Kauen, bürsten. Zerstören – und dann die Spuren der Zerstörung so rasch wie möglich beseitigen. So tun, als ob nichts wäre. Sich das Gewissen reinwaschen. Sich immer blütenweiß und unschuldig geben. Liebenswürdig lächeln, die Zähne fletschen“ (Scarpa 2005, 20). Ist nicht das Lächeln der Mutter das erste Lächeln, das sich als mehrdeutig erweist? Wenn sie lächelt, fletscht sie auch ihre Zähne. Sie sind bereit zum Kauen, bereit zum Verschlingen, bereit zu leibhaftiger Zerstörung. Sich vor dem Krokodil zu ängstigen, heißt auch, der Ambiguität eines freundlichen Ausdrucks gewahr zu werden.

Doch nicht nur das: die Zähne und die Lippen sind auch das engmaschige Gitter, an denen „die Silben zerschellen“ (ebd.), die Silben, Signifikanten, die der frühen Gefangenschaft jedes Kindes ein Ende bereiten könnten. Die Krokodilsmutter und ihr Maul verfügen über sie. Die Mutter oder eine mütterliche Figur an ihrer Stelle wird sich später als die erste erweisen, die geben konnte und verweigern. Sie konnte sich zu- oder abwenden. Sie konnte wollen oder nicht. Die Angst, die wir – zunächst noch sprachlos – durchzustehen hatten, wird gebannt, eingefangen, zu einer Furcht geformt, einer Furcht vor einer allmächtigen Mutter. Das Krokodil unserer Kinderbücher verschwimmt mit Fragmenten dieser schweigenden Mutter. Die Mutter als Krokodil ist eine Verlötungsfigur, in der endlose Unklarheit, tödliche Aggressivität, Ängste vor Zerstückelung und Ambiguität und zahllose unbenannte dumpfe Momente miteinander verschmolzen sind.

Die krokodilische Mutter ist eine imaginäre Bildung, eine kollektive Phantasie über die Abgründigkeit unserer Herkunft. Als eine solche Phantasie ist sie nicht nur Schreckbild, sondern auch ein Objekt des Übergangs in eine symbolische Welt. Die krokodilische Mutter verkörpert ein Bündel von Schrecken, mit dem es sich nicht gut leben lässt. Dieser Schrecken muss psychisch fassbar gemacht werden, um erträglich zu sein. Für Ernest Jones war die Sache klar: Das Krokodil verfügt über keinen sichtbaren Penis. In einem Brief an Freud, in dem er von der Arbeit an seinem Text über „Die Empfängnis der Jungfrau Maria durch das Ohr“ berichtet, schreibt Jones 1914: „Bei der Lektüre von Wallis Budges Buch über Osiris, das nebenbei sehr gut ist, war ich ganz entsetzt, zu lesen, dass die Ägypter bestimmte Rituale mit dem Penis von Krokodilen durchführten. In Panik rief ich verschiedene Professoren der Zoologie an, doch keiner konnte mir das sagen, was ich suchte. Am nächsten Tag ging ich in den Zoologischen Garten, um den Punkt zu erforschen. Keiner der Tierpfleger wusste es. Daher lag die einzige Möglichkeit darin, ein zweifellos männliches Krokodil mithilfe von Stangen auf den Rücken zu legen. Das war eine schrecklich schwierige Sache und ein aufregendes Unternehmen. Ich fand dabei heraus, wie später auch in einem Buch, dass der Penis des Tieres vollständig in der Kloake versteckt ist, sodass sich die Psy-Alpha Annahme, dass er von außen unsichtbar sein muss, als richtig heraus stellte“ (Freud, Jones 1993). Jones lenkt hier den Blick auf einen anderen Schrecken, den die Mutter als Krokodil verbreitet: es fehlt ihr etwas Entscheidendes, sie ist unvollständig, vielleicht verletzt, vielleicht zerstört. Ein Universum an neuen Unklarheiten tut sich auf. Das Krokodil hat ein gleichsam weibliches äußeres Erscheinungsbild, sofern Weiblichkeit auf Penislosigkeit reduzierbar ist. Kein Penis zu erkennen. Eine zunächst unfassbare narzisstische Kränkung. Das prädestiniert das Krokodil für seine Rolle als schreckliche Mutter in einer Gesellschaft, die phallokratisch funktioniert.

KrokoHand

Lacan allerdings lässt die Kinder nicht allein mit dem Krokodil. Er spricht davon, dass die Krokodilmutter einen Phallus im Maul trägt (Lacan 1991, 129). Damit lenkt er den Blick auf das ödipale Geschehen. Beim Ödipus, so Lacan, geht es um etwas ganz anderes als die Frage, ob man seine Mutter küsst (ebd., 127).

Der Ödipuskomplex ist eine Chance, der krokodilischen Sphäre zu entrinnen. Denn er umfasst ein phantasmatisches Szenario, in dem eine Strukturierung von Angst, Unklarheit, Ambiguität, Aggressivität, Spannung, also von Genießen möglich wird. Aus einem Penis wird dabei ein Phallus. Der kann verbinden und dabei das Maß an Aggression begrenzen. Alle möchten ihn haben und keiner hat ihn. Das Krokodilische indes als imaginäre Verkörperung des Animalischen bleibt auch nachträglich erhalten. Es wird metaphorisch in einem Lied evoziert, tritt als unförmige Schuhe einen unverständlichen Siegeszug gegen sämtliche ästhetische Empfindungen an oder manifestiert sich als zeitloses Produkt aus Reptilienleder. Denken Sie nur an „Die Bar zum Krokodil“, an die „Crocs“ oder an die exotische Mode der Krokotaschen

Sigmund Freud, Ernest Jones (1993): Briefwechsel 1908–1939, Englischsprachige Ausgabe der Harvard University Press mit einem Zusatzband, der die deutschsprachigen Brieftexte Freuds im Originalwortlaut enthält. Frankfurt/M.: Fischer.
Lacan, Jacques (1991): Le Séminaire. Livre XVII. L’envers de la psychanalyse, Paris: Seuil.
Scarpa, Tiziano (2005): Körper, Berlin: Wagenbach.

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