Guy-Felix Duportail (2014) Existence et psychanalyse, in: ders. (Hg.): Penser avec Lacan. Nouvelles lectures, Paris: Éditions Hermann, 175-212.
Der Artikel gliedert sich in fünf Abschnitte:
1) Die Dynamik der Knoten
2) Die Existenz mit Heidegger und Patocka
3) Für eine fleischliche Körperlichkeit (corporéité charnelle)
4) Die existentielle Ewigkeit: Merleau-Ponty als Leser Freuds
5) Zurück zu Lacan: Vom Borromäischen Knoten als existentielles Schema und von einer Knotenbewegung als vierte Bewegung der Existenz.
D strebt einen radikalen Dialog zwischen Philosophie und Psychoanalyse an (189).
Er nennt zunächst einige Autoren, die ein Interesse für die Psychoanalyse entwickelt haben: Binswanger, Sartre, Merleau-Ponty, Deleuze, Foucault, Derrida, Davidson, Cavell. Einzelne wie Merleau-Ponty, Sartre, Ricoeur, Derrida hätten vor allem den Abstand zwischen Philosophie und Psychoanalyse hervorgehoben. D will den nicht leugnen. Sein Projekt sei das einer gelebten Topologie (topologie vécue) bzw. einer Prototopologie des Fleisches (chair). “Die Räumlichkeit der Psyche, die Freud und Lacan betont haben, findet in der körperlichen Räumlichkeit des Zur-Welt-Seins ihre Aufklärung” (176).
1) D stützt sich auf einen Text von M. Vapperau, in welchem einerseits das Konzept des generalisierten Borromäischen Knotens und andererseits eine Theorie der Knotenbewegung beschrieben ist. Die Knotenbewegungen folgen den sogenannten R-Bewegungen, die Reidemeister beschrieben hat. Vappereau, der seit 1970 bei Lacan in dessen Seminaren und auch bei Lacan in Analyse gewesen ist, war zusammen mit Soury und wenigen anderen ein Berater für Lacan in Knotenangelegenheiten. Zusammen mit Porge, Darmon und Fierens hat er für eine Auffassung von Psychoanalyse als Ent- und Wiederverknotung votiert.
Die Bewegungen der Knoten sind etwas Mathematisches, genau genommen Geometrisches, nichts Körperliches. Eine psychoanalytische Beschäftigung mit ihnen impliziert so etwas wie eine platonistische Reduktion des Unbewussten (179). Allerdings könnte diese Behauptung missverstanden werden: Lacans Form der Reduktion habe mehr etwas Apokalyptisches, Antiplatonisches. Das zeige sich in dem, was Lacan am Unbewussten betont, wenn er es vor allem als etwas Nicht-Seiendes vorstellt. Die Aphanisis, die Kluft, die Abwesenheit – mit diesen und anderen Ausdrucksformen des Mangels charakterisiert Lacan das (Lacansche) Unbewusste.
2) D übernimmt von Patocka dessen Auffassung der grundlegenden Bedeutung der Bewegung für die Existenz. Bewegung entspricht einer Realisation von Möglichem (183). Mit Patocka unterscheidet er drei Formen der Bewegung, bezogen auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft (letztere sei mit Heidegger am wichtigsten). Obwohl der Körper bei Patocka insofern hereinspielt in die Bewegung, als Existenz körperlich verstanden wird, würde Patocka letztlich doch zu wenig Aufmerksamkeit für die fleischliche Dimension des Daseins aufbringen (188). Um diese Schwäche auszugleichen, bezieht D Merleau-Ponty ein.
3) Der Wirbel kennzeichnet unser gelebtes Verhältnis zu Raum und Zeit. Diese Annahme impliziert eine Abkehr vom Cogito. Der Wirbel des Fleisches entfremdet uns von uns selbst. (190) D unterscheidet mit Merleau-Ponty (Sorbonnevorlesungen) sogenannte “ultra-choses” (Ultradinge?). Sie gehören in einen vorobjektiven Bereich. Für das Kind zählt der Himmel dazu oder die Erde. Für den Erwachsenen bildet der Tod eine solche “ultra-chose”. D will auch das Unbewusste und das Fleisch (chair) dazu zählen. Ultradinge ließen sich nur topologisch zum Ausdruck bringen (191).
Die Bewegung des Fleisches begreift D (vermutlich mit Merleau-Ponty) als eine Bewegtheit des Seins, die nichts mit physikalischen Begriffen von Bewegung zu tun hat. Er situiert die Bewegung des Wirbels vor allem im Visuellen. “Der Sehende ist nur eine Falte im Gewebe des Sichtbaren-in-Bewegung, er ist nur eine Höhlung im Fleisch der Welt” (194). Anklingend an einen frühen Text Lacans (der eine völlig andere Ausrichtung hat), schreibt D von drei logischen Zeiten der Bewegtheit des sensiblen Seins (195). (Oder gibt es den Ausdruck “logische Zeit” auch bei Merleau-Ponty?).
4) D bemerkt, dass die Ausführungen ziemlich barock werden (197) und liest in den Sorbonne-Vorlesungen eine Anwendung auf die konkrete Existenz. Da ist von einem praktischen Schema die Rede, das sich als symbolische Matrix der Interpretation einer Fallgeschichte bei Freud (Madame B.) eigne. (Frau B. dürfte – was D nicht angibt, aus einem Manuskript von Freud mit dem Titel “Eine erfüllte Traumahnung” (1899) stammen). Der gesamte Exkurs dient dazu, die Beschränkung der bisherigen Überlegungen auf das Feld des Sehens aufzuheben und eine Kapazität des Fleisches zur passiven Verknüpfung von Ereignissen (liaison passive des événements) (201f.) hervorzuheben.
Statt eines vierten Axioms postuliert D in diesem Artikel eine vierte Form der Bewegung. Sie erfülle die Aufgabe, das praktische Schema des Existierenden einzuführen und aufrecht zu erhalten; das können die drei anderen Bewegungen der Existenz, die an die Irreversibilität der Zeit geknüpft sind, prinzipiell nicht realisieren (202).
5) D will die Knoten Lacans als topologische Spuren eines existentiellen Schemas lesen (203). Die Knotenbewegungen des Topologen würden dabei zu einer Art “Figuren der vierten Bewegung der Existenz des Philosophen”. Das bedeutet, dass Lacans Schemata für D nichts Formelhaftes (204) (d.h. nicht den Charakter von Mathemen, siehe unten) haben.
D gliedert seine Zusammenführung des bisher Gesagten mit einzelnen Theoremen von Lacan in vier Unterabschnitte und bemerkt,
a) dass Merleau-Ponty in seiner Wirbelmetaphorik das Loch im Zentrum eines Wirbels unbeachtet lässt. Lacan hingegen würde das Sein durchlöchern und damit eine “Negativität in die Prototopologie des Sensiblen” hereinbringen (205).
b) dass sich das Fehlen des Lochs als eine Art Enthaltung gegenüber der Kastration verstehen lasse (im Hinblick auf das SE XI).
c) dass sich die Frage nach falschen und wahren Löchern stelle. Als richtig anerkennt D nur solche, die borromäisch werden könnten. Unter den falschen macht er “schwarze Löcher” (208) aus, die er als Werk des Todestriebs auffasst. Der Todestrieb sei philosophisch das andere einer Bewegung in Richtung des Seins (208). Die vierte Bewegung wird damit zu einer Bewegung im Kampf mit der Aggression. Kühn wagt sich D auch noch weiter: Er schreibt von einer gelungenen Analyse, die eine lebendige Praxis des Sprechens hervorbringe, die eine Bewegung des Begehrens entlang einer Kunst des Sprechens wiedereinführt. Das phallische Genießen liege dann nicht ganz außerhalb des Körpers, das Genießen des Anderen nicht ganz außerhalb der Sprache, der Sinn nicht ganz außerhalb des Realen. Für die letzten drei Thesen verweist D auf eine Lesart von F. Baudry (1986): in l’intime. Paris: Les éditions des l’Éclat. Im Übrigen sei die vierte Bewegung gleichzusetzen mit der Knotenbewegung. Bemerkenswert auch noch ein weiterer Satz über die Rolle der Psychoanalyse für die Philosophie: Wenn die Philosophie die Psychoanalyse einbeziehe, dann spanne sich die menschliche Existenz auf, sie problematisiere sich, verknote sich, zeige eine Resonanz mit den großen Tragödien.
d) dass die Ontologie des Fleisches die normative Funktion der Kastration übernehme. Das Loch im Sein führe den Borromäischen Knoten und mit ihm die Kastration als Norm des Begehrens ein. Der Wirbel müsse dazu – in irgendeiner von unzählig vielen Formen – einen Namen des Vaters ausspucken (211). Der Vater des Namens bildet die Möglichkeitsbedingung für den Namen des Vaters, sei insofern wichtiger als dieser.
Der Wirbel des Fleisches sei ein Freudscher Versprecher (211).
Die verbindende Lektüre Ds hat einige Probleme:
- Die existentielle Aufladung des Knotens (und der Psychoanalyse als Ganze) erinnert mehr an Sartre (und wohl Merleau-Ponty) als an Lacan.
- Terminologisch geht D locker mit Differenzen um, die zumindest genannt werden müssten. Ex-sistence im Lacanschen Sinn etwa, um nur ein Beispiel zu nennen, unterscheidet sich deutlich von Existence bei Merleau-Ponty.
- Vor dem Hintergrund von Badious Beschäftigung mit dem späten Lacan in seinem vor kurzem übersetzten Buch mutet es sehr ungewöhnlich an, dass die Formeln, mit denen Lacan sein Lebtag lang argumentiert hat, keine Formeln sein sollen, sondern etwas Existentielles.
- Die falschen Löcher als schwarze Löcher kann ich nicht mit Lacans Text verknüpfen, wobei auch Rolf Nemitz diese Assoziation hat. Gewagt erscheint mir der triebtheoretische Ausflug. Der Kampf gegen die Aggression klingt wie ein moralisches Anliegen. Psychoanalytisch wäre eher über Integration, über Vermischung von Triebqualitäten zu sprechen.
- Die normativen Annahmen über die Kur verwundern, zumal beim späten Lacan.