Re: all

Wie sprechen von Unaussprechlichem? Seit Jahrhunderten werden wir mit Literatur versorgt, die den Wahnsinn darstellt. Foucault war einige Zeit beschäftigt damit zu klären, wie sich Literatur zum Wahnsinn verhalten kann, ohne die Psychose zu romantisieren, zu ontologisieren, zu literalisieren oder als klinisches Syndrom abzutun (vgl. Unterthurner 2012, 288).

Nach der Betrachtung eines überaus lohnenden Films stellt sich erneut eine alte Frage: Können wir über psychotische Erfahrungen schreiben, sprechen oder Filme machen, ohne solche Erfahrungen gleichzeitig zu verschütten?

Fünf Frauen haben über ihre Erfahrungen der Pychose erzählt. Die finnische Künstlerin Eija-Liisa Ahtila hat aus den Gesprächen einen Film gemacht: Love is a treasure / Rakkaus on aarre (2002). Geschützt oder eingezwängt am Fußboden unter Krankenhausbetten, vom Dach aus auf alles hinunter schauend, im sanften Flug zwischen den Bäumen – Ahtila setzt eine Reihe von unwahrscheinlichen Konstellationen, in denen sich die Frauen befinden, ins Bild. Als ZuschauerInnen des Films können wir uns selbst gut als ZuschauerInnen von Wahnsinn in der Realität vorstellen. Die Erfahrung für die Fliegende im Fliegen  bleibt dennoch etwas Anderes.

Lacan kennzeichnet einen solchen individuellen Erfahrungsbestand wie das Fliegenkönnen als zugehörig zum Realen. (Von außen zeigt sich das radikalisiert Individuelle dieses Erlebens darin, dass kein Fliegen zu beobachten ist.) Lacan versteht unter  dem Realen ab den frühen Sechziger Jahren etwas Nicht-Symbolisierbares, etwas, was einer Symbolisierung widersteht. Damit verknüpfen sich eine Reihe von Fragen: Ist das Reale, das in psychotischen Zuständen erlebt wird, etwas, was vor allem durch das Fehlen (z.B. von Unterscheidung, von Symbolisierungsmöglichkeit) bestimmt ist? Oder richtet sich die Erfahrung der Psychose auf etwas Dichtes, auf ein Alles, re: all? Anderes gesagt: Ist sie ein Erleben im Überfluss von Fülle, von Zuviel, von einer ununterscheidbaren Masse, der die Strukturierungsmöglichkeit fehlt, aber nicht abgeht? Und ist in dieser Erfahrung des Realen auch etwas davon enthalten, was im nicht-psychotischen Modus als Realität erlebt und bezeichnet wird?

Das mag wie eine Ansammlung hauptsächlich akademischer Fragen klingen. Für das Zuhören in der klinischen Arbeit ist es jedoch von nicht geringer Bedeutung, welcher Stellenwert der Erfahrung des Realen zugemessen wird und ob und woraus wir sie zusammengesetzt denken. Denn alles Nicht-Symbolisierbare wird zumindest eingebettet in Symbolisierungen, in welche unsere imaginären Vorannahmen einfließen.

Literatur:

Unterthurner, Gerhard (2012): Wahnsinn und Literatur bei Foucault. Bemerkungen zu einer Theorieverschiebung, in: ders. / Kadi, Ulrike: Wahn. Philosophische, psychoanalytische und kulturwissenschaftliche Perspektiven. Wien: turia+kant, 275-298.

Filmstill aus Love is a Treasure

Schreibe einen Kommentar