Der Ursprung der Welt

In einem Kapitel (vgl. Barzulai 1999, 48-67) ihres vor 13 Jahren erschienenen und bemerkenswert wenig beachteten Buches Lacan and the Matter of Origins macht Shuli Barzilai aufmerksam auf eine Denklinie, entlang derer Lacan seine Konzepte modifiziert hat: In seinem Lexikonartikel über Die Familie unterscheidet er 1938, als er dem Denken einer psychischen Entwicklung in der Psychoanalyse noch etwas abgewinnen konnte, drei Komplexe: den Komplex der Entwöhnung, den Komplex des Eindringlings und den Ödipuskomplex. Im folgenden Jahrzehnt verschiebt er sein theoretisches Grundgerüst in zweierlei Hinsicht: Er rückt den Entwicklungsgedanken in den Hintergrund, um die Nachträglichkeit ins Zentrum zu rücken. Und anstelle von den drei Komplexen spricht er nur noch vom Spiegelstadium und vom Ödipuskomplex. Während der Komplex des Eindringlings sich in modifizierter Form in den Theorien zum Spiegelstadium findet, verliert sich die Spur des ersten Komplexes ziemlich. Der Entwöhnungskomplex und mit ihm die mütterliche Imago, d.h. das Gesicht der Mutter und ihre Brust, büßen ihre formative Kraft für das Subjekt ein. Anstelle der mütterlichen Imago tritt der Spiegel. Er wird zur Mutter des Ichs (Barzulei 1999, 88). Zu einer kalten Mutter.

Möglicherweise hatte Lacan eine Tendenz, das zu verstecken, worum es ihm in besonderer Weise ging. So jedenfalls liest Barzulai seinen Umgang mit dem Ursprung der Welt, L’Origine du Monde. Dieses Bild von Gustave Courbet hatte Lacan Mitte der Fünfziger Jahre mit Silvia Bataille gekauft. Schon der Maler hatte dieses Bild, das eine lange und wechselvolle Geschichte hatte (vgl. dazu auch Hentschel 2001,19-21), zum Schutz vor den Blicken mit einem zweiten Bild überlagert: eine Schneelandschaft hatte aus dem Torso einen unauffälligen Gegenstand werden lassen. Lacan beauftragte seinen Schwager, André Masson, mit der Herstellung eines neuen Kaschierbildes im selben Format. Solchermaßen verborgen verbrachte das Bild einige Jahrzehnte auf Lacans Landsitz in Guitrancourt. Es wird erzählt, dass Lacan nur für wenige erlesene FreundInnen und Gäste in besonderen Situationen Massons Tafel zur Seite schob. Und dass er stets schweigend wartete, bis die BetrachterInnen von selbst etwas sagten über das Bild.

Dieser überaus diskrete Umgang mit dem Gemälde – es war lange Zeit unbekannt, ob das Bild noch existiert oder ob es während des 2. Weltkriegs zerstört worden ist – lässt sich verstehen als Reflex auf die Unmöglichkeit einer Suche nach dem Ursprung. Er kann auch gelesen werden als eine Suche nach einem passenden Umgang mit der Scham. Es versinnbildlicht jedenfalls etwas von Lacans Vorstellungen über die Notwendigkeit, den Ursprung zu verbergen. Vielleicht gerade in einer Welt, die sich so gerne mit Orlans Version von Courbets Bild beschäftigt.

Literatur:
Barzilai, Shuli (1999): Lacan and the Matter of Origins. Stanford.
Hentschel, Linda (2001): Pornotopische Techniken des Betrachtens. Raumwahrnehmung und Geschlechterordnung in visuellen Apparaten der Moderne. Marburg.
Lacan, Jacques (1938): »Die Familie«, in: ders.: Schriften III, Weinheim, Berlin, 39-100.

André Masson: Cache pour „L’Origine du monde“ de Gustave Courbet, 1955

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