Fortsetzungsroman

Entwicklungspsychologische Beschreibungen, auf die auch in der Psychoanalyse zurückgegriffen wird, teilen miteinander eine Schwierigkeit: Wie hat alles angefangen? Sollen wir zunächst ein frühes Ich annehmen, das eine Erfahrung gemacht, eine Phantasie gehabt – ein Kind vor dem Spiegel, das sich (nicht) erkannt hat? Der Einspruch meldet sich sofort: Woher wäre ein solches Ich gekommen? Hat es eine Phantasie, eine Erfahrung gegeben, auf Basis derer sich das Ich gebildet hat? Wer aber hätte dann diese Phantasie gehabt, wenn sich das Ich doch erst aus ihr konstituiert hat?

Auch Laplanche und Pontalis (1992) haben sich diese Frage gestellt. Im Ausgang von der Phantasie, die von Anfang an das Hauptmaterial der Psychoanalyse war (vgl. Laplanche, Pontalis 1992, 10), haben sie Freuds Überlegungen zum Ursprung der Phantasien zusammengetragen. Steht am Anfang eine sexuelle Verführung durch den Vater in der Realität, wie sie Freud bis 1897 annahm? Ist es die sexuelle und biologische Konstitution des Kindes, die sich in Phantasien übersetzt und zu Symptomen führt (vgl. Laplanche, Pontalis 1992, 30)? Oder war da etwas nicht Symbolisiertes am Beginn, das zunächst ähnlich einem psychotischen Einschluss wie ein Fremdkörper bestehen bleibt? Ein im Inneren ausgeschlossener Fremdkörper, der sich weniger durch eine Wahrnehmung als durch den Wunsch der Eltern gebildet hat (vgl. Laplanche, Pontalis 1992, 34), das, was Laplanche an anderer Stelle rätselhafte Botschaft nennt?  Auf der Suche nach der Lösung des Rätsels stand Freud schließlich nicht an, eine phylogenetische Prägung von einer Reihe von typischen Phantasien anzunehmen – Urszene, Verführung und Kastrationsdrohung entstammten dieser Annahme zufolge der Urzeit der menschlichen Familie (vgl. Laplanche, Pontalis 1992, 37). Freud führt 1915 den Ausdruck „Urphantasie“ ein. Die Phantasien über den Ursprung (die Urszene: Frage nach dem Ursprung des Subjekts, die Verführung: Frage nach dem dem Ursprung der Sexualität des Subjekts und die Kastration: Frage nach dem Ursprung der geschlechtlichen Identität des Subjekts) werden zum Kern dessen, was das neurotische Symptom ausmacht.

Laplanche und Pontalis unterstreichen, dass es für Freud zweierlei Zuflüsse zu diesen Phantasien gibt: die einerseits in den jeweiligen Komplexen enthaltenen Schemata von Szenerien, die andererseits durch einen äußeren sensorischen Eindruck aktiviert werden. Konkret gesagt: ein Kind hört Geräusche, die es mit elterlichem Geschlechtsverkehr bzw. seiner nachträglich dazu auftauchenden Phantasie in Verbindung bringt. Metaphorisch deuten Laplanche und Pontalis diese Geräusche als ein Raunen, in dem sich die genealogischen Bezüge des Subjekts Geltung für dieses verschaffen (vgl. Laplanche, Pontalis 1992, 42).

Auch objektbeziehungstheoretisch spielt die Phantasie eine Hauptrolle in der Psychoanalyse (Isaacs 1948). Es wird das Verhältnis des/der Patienten/in zur/m Analytiker/in als ein Verhältnis angesehen, das allein durch unbewusste Phantasien (phantasy, nicht fantasy) bestimmt ist. Doch diese Phantasien werden anders als in einem strukturalpsychoanalytischen Zusammenhang (für den Laplanches und Pontalis‘ Lesart hier trotz ihrer im Vorwort unterstrichenen Distanznahme gegenüber Lacan firmieren kann) als mentale Repräsentationen des Triebs angesehen (vgl. Isaacs 1948, 81 und 90). Diese Deutung beruft sich zwar zu Recht auf „gewisse[ ] Formulierungen Freuds“ (vgl. Laplanche, Pontalis 1992, 53; Vgl. bezüglich einer Kritik an Isaacs Torok 1959). Was dabei allerdings schwerer thematisierbar ist, sind die symbolischen, die mit der Verdrängung und dem individuellen Konflikt in Zusammenhang stehenden Schicksale von Phantasiebildungen – das, was den Charakter der Phantasie als „Mischwesen“ ausmacht, als einen „Fortsetzungsroman, den das Individuum sich zurecht legt und im Wachzustand sich erzählt“ (Laplanche, Pontalis 1992, 49).

In der Graphik von Dorothee Golz wird diese Vielgestaltigkeit der Phantasie als eine Zirkularität zwischen Ich/Je und Ich/Moi aufgegriffen. Die Frage nach dem Anfang erübrigt sich. Zerstückelungs-, Einverleibungs- und Ausstoßungsphantasien, Größenvorstellungen und Projektionen befinden sich in einem engen, spannenden Zusammenhang mit a/Anderen, (mit) äußeren strukturalen  Zuflüssen (vgl. ebd.), in denen das Schicksal des Sexuellen in Konfrontation und Kooperation mit der bedeutungstragenden symbolischen Welt lustvoll bestimmt ist.

Lit.:

Freud, Sigmund (1915): Mitteilung eines der psychoanalytischen Theorie widersprechenden Falles von Paranoia, GW X, 234.
Isaacs, Susan (1948): The Nature and Function of Phantasy, in: International Journal of Psycho-Analysis 29, 73-97.
Laplanche, Jean / Jean-Bertrand Pontalis (1992): Urphantasie. Phantasien über den Ursprung, Ursprünge der Phantasie. Frankfurt/M.: Suhrkamp (orig. frz.: dies. (1964): Fantasme originaire, fantasmes des origines, origine du fantasme, in: Les Temps modernes 1964/215, 1833-1868).
Torok, Maria (1959): Phantasie. Versuch einer begrifflichen Klärung ihrer Struktur und Funktion, in: Psyche 1997, 51, 33-45.

Dorothee Golz: Le Je et le Moi (2004). Graphit auf Acryltafel.

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