Lässt sich heute noch ein Phallusprimat behaupten? In Diskussionen wird darauf oft geantwortet, es gehe ja beim Phallusprimat um den Phallus als einen leeren Signifikanten. Als ließen sich auf diese Weise sämtliche Androzentrismus-Vorwürfe gegenüber einer strukturalen Lesart der Psychoanalyse zurückweisen. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich, dass die Sache weniger klar ist:

Jacques Lacan versucht zwar, Penis und Phallus voellig voneinander zu trennen – etwa mittels der sonderbaren Vorstellung, es könnte einen Sprachausdruck wie den Phallus geben, dem primär keine und daher letztlich jede Bedeutung zugeordnet werden kann. Doch schon das Festhalten am Wort „Phallus“ ist ein deutlicher Hinweis, dass für das Funktionieren aller wirksamen Sätze mit dem Phallus eine Verbindung in der Phantasie zwischen diesem Sprachausdruck und einer konkreten Körperform, dem Penis, gedacht werden muss, der Sprachausdruck also trotz aller theoretischen Beschwörungen seiner konventionellen Bedeutung niemals gänzlich beraubt werden kann. Eine Streichung des Namens „Phallus“ und sein Ersatz etwa durch „leere Kiste“ (ohne jegliche Bedeutung) lässt Lacans Theorie des Begehrens in sich selbst zusammen fallen.

Dabei war von Beginn an klar, dass die Wahl dieses Organs einer androzentrischen gesellschaftlichen Konstellation zugehört: Innerhalb der Psychoanalyse waren die Stimmen (wie jene von August Stärke, Melanie Klein, Ernest Jones, Karen Horney, Phyllis Greenacre, Clara Thompson, Luce Irigaray …) nie zum Schweigen zu bringen, die auch andere körpergebundene Phantasien für subjektkonstitutiv angesehen haben. Ein Grund für die Dominanz der – angesichts der zu Freuds Zeiten längst ins Wanken geratenen Position des Vaters – anachronistischen Idee, dass es nur eine einzige Körperphantasie sei, die die gesamte symbolische Welt zu tragen in der Lage ist, liegt darin, dass die Penisphantasie eine Phantasie ist, mit der sich zeitlich erfassbare Phänomene verbinden lassen. Lacan formuliert das Ende der Fünfziger Jahre so, dass der Penis sich aufgrund seiner Fähigkeit zur [De]Tumeszens besonders eignen würde, die Geschlechterdifferenz zu markieren.

Körperphantasien etwa über die Scheide, die Gebärmutter und damit über den unerforschbaren Innenraum des nicht-phallisch markierten Geschlechts sind schwer in solche zeitlich strukturierten Zusammenhänge einzubetten. Deswegen wäre weniger ein Phallusprimat zu diskutieren, als die Frage nach dem Primat der Zeit gegenüber einer Berücksichtigung des Raums in der Theorie. Ein Temporozentrismus in manchen philosophischen Ansätzen des letzten Jahrhunderts (vgl. Casey 1998) wird von einzelnen Strömungen in der Psychoanalyse ungefragt übernommen. In dabei entstandenen phallozentristischen Ansätzen sieht es so aus, als ließen sich manche Psychoanalytiker von Philosophen wie Henri Bergson, William James oder (dem frühen) Martin Heidegger die Ohren zustopfen, um nicht zu hören, dass in den Phantasien ihrer PatientInnen neben zeitlich Bestimmtem ebenso räumlich Bedrohliches und schwer Fassbares anklingt.
Lit.:
Casey, Edward S. (1998): The Fate of Place. A Philosophical History. Berkeley: University of California Press.
Ein Band mit zahlreichen weiteren Collagen von Suzy Kirsch erscheint demnächst im Verlag Sonderzahl unter dem Titel: Phallus. Collage. Gestaltung: Walter Pamminger und Nik Thönen, 144 S., Fadenheftung, Hardcover, Format: 24 x 32 cm. € 33,–. ISBN 978 3 85449 373 0
