Ordination Dr. Spielvogel: Kokosbusserln

Sehr verehrter, lieber Herr Doktor Speivogel!
Ich bin sehr froh, dass Weihnachten endlich wieder vorbei ist. Bloß: bei meinem Mann hält die Depression an. Er sagt es immer wieder.
Ich meinerseits bin mir aber nicht sicher, dass das wirklich so ist. Man liest ja so vieles. Heute hat jeder eine Depression. Auch meine Mutter findet nicht mehr aus dem Bett. Ich komme mir schon wie ein halber Depp vor ohne eine richtige Depression.
Glauben Sie, würde es helfen, wenn ich noch einmal Kokosbusserln backe? Mein Mann isst die so gerne.
Trist
Melanie Kolia

Sehr geehrte Frau Kolia,

wie Recht Sie haben! Im Augenblick müssen wir den Eindruck gewinnen, dass gar nichts und niemand mehr geht ohne Depression. Da hat sich etwas geändert, denn das war nicht immer so. Depressive Störungen haben in den letzten vierzig Jahren in der sogenannten westlichen Welt in hohem Ausmaß zugenommen. Während in den 1970ger Jahren etwa 0,5 % der Bevölkerung an einer diagnostizierten Depression gelitten haben, sind es heute in vielen Ländern zwischen 25 und 45 %.

Allerdings ist das – wie so oft – wohl nur die halbe Wahrheit. Wir sollten uns von den Klassifikationssystemen nicht täuschen lassen. Darian Leader, ein britischer Psychoanalytiker, hat schon vor einiger Zeit gemeint, dass sich nicht die Erkrankungshäufigkeit z.B. von Depressionen in den letzten dreißig Jahren geändert hat, sondern die Definition von dem, was für krank gehalten wird. Ganz wichtig scheint dabei zu sein, dass die Symptome, die wir heutzutage charakteristischerweise einer Depression zuordnen, vor allem durch Medikamente beeinflussbar sind. In Deutschland werden die Dinge manchmal ja recht undiplomatisch auf den Punkt gebracht. Dort wurde dieser Zusammenhang jedenfalls vor einigen Jahren als medizinisch-industrieller Komplex bezeichnet (Pohlen / Bautz-Holzherr 2000).

Früher wurde nicht von einer Depression, sondern von der Melancholie gesprochen, von der acedia, der Trägheit des Herzens, und von ihren sechs Töchtern – der Bosheit, dem Groll, der Kleinmütigkeit, der Verzweiflung, der stumpfen Gleichgültigkeit und der schweifenden Unruhe des Geistes. Gegen die ist kein Kraut gewachsen, wenn der eigene Mann mit der Mutter im Bette liegt.

Meine Empfehlung: Backen Sie noch eine Ladung Kokosbusserln. Und lassen Sie sich die gut schmecken.

Herzlich

Ihr Dr. Spielvogel