Provokation und Kreation

In einem Nachruf für Michael Turnheim bezeichnet Regula Schindler Lacans Seminar XXIII über Das Sinthom als irrlichterndes Spät-Seminar.  Sie hebt die Gefahr einer „männerbündlerischen“ Lektüre dieses Textes hervor und macht aufmerksam auf dabei verlorene Verbindungen, die Mutter und ihr Schicksal betreffend, die sich von Lacans Seminar über Die Objektbeziehung bis in das Sinthom-Seminar ziehen. Was ein wenig wundert

an Schindlers Beschreibung, ist der Ausdruck „irrlichternd“. Als müsse da etwas von dem Gesagten zurückgenommen werden, weil es zu provokant scheint, verwirrte Reaktionen auf den Verlust der Bedeutung des Phallus (ein Verlust, der die späteren Überlegungen Lacans ebenso wie seinen Sprach- und Denkstil in dieser Zeit mitgestaltet) in einer Formulierung wie „männerbündlerisch“ auch nur anklingen zu lassen.

Ähnlich kommen mir manche Bemühungen vor, eine ungebrochene theoretische Kontinuität zwischen frühen und späten Arbeiten Lacans in den Vordergrund zu rücken, anstatt in neuen Denkanstößen auch das destruktive Moment anzuerkennen, das sich mit mancher Neuschöpfung verbindet. Sabina Spielrein (1912) hat den Aspekt einer für Kreationen erforderlichen Destruktion lange vor Freuds Ausarbeitung seiner Theorie der Todestriebe untersucht. (Ich will nicht nachdenken darüber, was das Schicksal ihres Beitrags in der Geschichte der Psychoanalyse bis in die Gegenwart, in der etwa Britton (2003) Spielrein hauptsächlich als Patientin ansieht und ihre theoretischen Überlegungen auf diese Weise in einen pathologischen Kontext rückt, bedeuten könnte. Da verdient die kreative Lektüre von Teresa de Lauretis (2003), die Spielreins Vorschlag  im Konzept der „creative destruction“ des Ökonomen Joseph Schumpeter wiederfindet, sehr viel mehr Aufmerksamkeit.)

Edna O’Shaughnessy hat in einem Artikel im International Journal of Psychoanalysis (O’Shaughnessy  2005), in welchem sie die große Bedeutung Bions für die gegenwärtige psychoanalytische Diskussion in der britischen Schule hervorgehoben hat, gemeint, dass Bions späte Arbeiten weniger genau, undiszipliniert und widersprüchlich wären , „too pro- and e-vocative“ (O’Shaughnessy  2005, 1525, vgl. dazu auch Blass 2011, 1082). Diese Einschätzung erinnert mich an Schindlers Ausdruck „irrlichternd“. Antonino Ferro hat dagegen in derselben Artikelserie den besonderen Wert von Bions Spätwerks betont – einen Wert, den er etwa in einer Ungesättigtheit und einer Öffnung neuen Bedeutungen gegenüber sieht (Ferro 2005, 1535).

Als eine solche kreative Bewegung, neue Bedeutungen zu suchen und eine Situation zu befördern, in der sie aufgenommen werden können, verstehe ich einen Text, den Robert Heim zuletzt veröffentlicht hat: Zwischen Bion und Lacan. Einige Verbindungen ohne Attacken (Heim 2011).

Literatur:

Blass, Rachel B. (2011): Psychoanalytic Controversies. Introduction to ‚On the value of  „late Bion“ to analytic theory an practice‘. International Journal of Psycho-Analysis 92, 1081-1088.
Britton, Ronald (2003):  Sabina Spielrein. In: ders.: Sex, Death and Superego. London: Karnac, 45-64.
Lauretis, Teresa de (2003): Becoming Inorganic. Critical Inquiry, Summer 2003, 547-570.
Ferro, Antonino (2005): Bion: Theoretical and clinical observations. International Journal of Psycho-Analysis 86, 1535-1542.
Heim, Robert (2011): Zwischen Bion und Lacan. Einige Verbindungen ohne Attacken. Werkblatt 28/67, 3-31.
O’Shaughnessy, Edna (2005). Whose Bion? International Journal of Psychoanalysis 86, 1523-1528.
Spielrein, Sabina (1912): Destruktion als Ursache des Werdens. Jahrbuch für Psychoanalyse 4, 465-512.

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