„Der Wahn bildet einen Knotenpunkt. Er ist eines von jenen Worten, in denen sich verschiedene Diskurse verknoten. Im psychopathologischen Diskurs gilt er als Symptom. Einen Hinweis auf verschiedene behandlungsbedürftige Erkrankungen bezeichnet er in psychiatrischen Diskursen. In psychoanalytischen Diskursen wird er alsVersuch einer Bewältigung angesehen. In philosophischen Diskursen fungiert er oftmals synonym mit dem Wahnsinn als kritischer Gegenbegriff zur Vernunft. Auch kulturwissenschaftliche und psychiatriekritische Diskurse verwenden ihn bisweilen ungetrennt vom Wahnsinn, um an seinem Beispiel problematische Normalisierungstendenzen aufzuzeigen.
Mit der Psychoanalyse Freuds, mit einer kritischen Psychiatriegeschichtsschreibung und den kulturgeschichtlichen Untersuchungen von Michel Foucault, mit der Philosophie seit dem 19. Jahrhundert gehören Themen wie Wahn und Wahnsinn in die Geschichte der Selbstkritik der abendländischen Vernunft. Sie konfrontieren mit Fragen, wie es mit der eigenen Rationalität, Normalität und Realität bestimmt ist und stellen diese auch infrage. Eine Rationalität, die sich auf den Wahn einlässt und sich von ihm bleibend beunruhigen lässt, kann ihm nicht von vornherein einfach einen Platz zuweisen, ihn in einen allgemeinen Vernunftraum als bloßen Mangel oder Defizit einordnen oder von einer fraglos vorausgesetzten Normalität aus als anormal abtun. Offen ist insbesondere angesichts von einzelnen gegenwärtigen Entwicklungen, in denen wahnartig anmutende extremistische Positionen zum Motiv von politischem Handeln werden, wie weit eine solche Infragestellung gehen soll. Das ist keine neue Frage. Auch in der Geschichte finden sich darauf mehrere Antworten, die bis hin zu einer Romantisierung des Wahns reichen. Psychopathologisch wird indes deutlich, dass eine diametrale Gegenüberstellung von Wahn und Rationalität nicht ausreicht, um die Vielfalt der Phänomene zu erfassen. Begriffe wie wahnhafte Überzeugungen oder fixe Ideen lassen zumindest ahnen, dass zwischen einem Wahn und sogenannten rationalen Einsichten graduelle Übergänge gedacht werden können.“
Der soeben erschienene Sammelband Wahn. Philosophische, psychoanalytische und kulturwissenschaftliche Perspektiven, Wien: turia + kant (hg. von Gerhard Unterthurner und Ulrike Kadi), aus dessen Vorwort das obige Zitat stammt, enthält Beiträge zu diesen und anderen Wahnthemen von Rudolf Bernet, Andreas Cremonini, Herbert Hrachovec, Ulrike Kadi, Christian Kupke, Alice Pechriggl, Susanne Regener, Marc Rölli, August Ruhs, Karl Stockreiter, Thomas Stompe / Hans Schanda, Gerhard Unterthurner und Christoph Weinberger.