Auf einer kleinen Zeichnung, die nie veröffentlicht wurde, weil sie Aragon und Sadoul angeblich zu grausam erschien (Wilson 1999, 167) stellt Alberto Giacometti während seiner surrealistischen Phase eine Phantasie von einer frühen Lebenssituation eines Kindes dar: Religion und Vaterland durchbohren Schädel und Bauch. Der krokodilische Polizeihund mit Mistgabelschwanz liegt lauernd daneben und blickt doch nur stumm vor sich hin (vgl. Alberto Giacometti. Neugeborenes. 1932. Musee National d‘ Art Moderne, Paris).
Anders als in Aragons surrealistischer Zeitschrift haben solche Geschichten in einer psychoanalytischen Behandlung immer Platz. Sie werden als Narrativ zum Ausgangspunkt und Gegenstand von Wahrnehmungen, BeDeutungen, Uebertragungen und andere Arbeiten am Signifikanten. Ihre individuellen und kulturellen konflikthaften Aspekte, deren wechselseitige Abhängigkeiten und Widersprüche sind Movens der psychoanalytischen Arbeit, sofern diese um das Sprechen und seine Bedeutungen herum angelegt ist. So könnte man denken.
Lacan hat eine solche Ausrichtung der Kur in seinem späten Werk zumindest in den Hintergrund gerückt, wenn nicht sogar verabschiedet. Jacques-Alain Miller weist darauf hin, dass Lacan in den Siebziger Jahren zu einer Konzeption des Unbewussten gelangt ist, die mehr mit dem Realen als mit dem Symbolischen zu tun hat. Damit geriet Lacans Vorstellung vom Unbewussten in Widerspruch zu Freuds Begriff des Unbewussten, den Lacan, solange er das Unbewusste von der Sprache her, das heißt symbolisch begreifen wollte, stets als Bezugspunkt angegeben hatte (vgl. Miller 2008, 61). Miller betont, dass Lacans Lehre durch große Brüche gekennzeichnet ist, die es zeitweise notwendig machen, dass dieser sich selbst erklärte, was er in einer anderen Schrift gemeint haben könnte. Miller erwähnt in diesem Zusammenhang Widersprüche zwischen L’etourdit und SE XXIII Le Sinthome (ebd., 70). Viel öfter hat Lacan die Aufgabe des Verbindens von heterokliten Überlegungen nicht selbst übernommen und damit einen motivreichen Fundus für das weitere Nachdenken hinterlassen.
Lacans späte Überlegung, dass das Unbewusste als Reales und das heißt als „Sinn verwerfendes“ (vgl. Lacan 2005, 65) zu denken ist, kann unterschiedlich gemeint sein: Es kann bedeuten, dass das Unbewusste bedeutungslos ist. Es kann heißen, dass das Unbewusste jenseits von bestimmten Bedeutungen offen für unterschiedliche, wechselnde Bedeutungen ist, die sich aus der Konfrontation zwischen dem Körper und dem Anderen ergeben. Es kann heißen, dass das Unbewusste Bedeutung abzieht, dem Zugang entzieht (ähnlich wie Freud von einem Sog des Urverdrängten ausgeht), sodass sie nur in Spuren an Stellen wiederaufgefunden werden kann, wo sie nicht erwartet wird – im Klang, in einer Atmosphäre der Mitteilung, in einer Färbung des Dialekts, in einer affektiv bestimmten Betonung oder Ähnlichem.
In schriftlichen Zusammenhängen können Hieroglyphen die dritte Lesart verdeutlichen. Sie lassen erkennbar werden, dass Buchstaben als materielle Träger verworfener Bedeutungen fungieren können. (Wobei ich zugebe, dass der reale Aspekt im folgenden Beispiel durch den imaginären bereits überformt und daher wieder verloren gegangen ist. – Dank an Walter Pamminger für den Hinweis auf diesen Buchstaben und für dieses Bild. Quelle: Hans U. Gumbrecht, K. Ludwig Pfeiffer, (Hrsg.) Materialität der Kommunikation, stw 750, Suhrkamp, 1988).
Giacomettis krokodilischer Polizeihund wäre dagegen mit sehr viel mehr bestimmten Bedeutungen beladen.
Lit.:
Lacan, Jacques (2005): Le Séminaire. Livre XXIII. Le Sinthom (1975-1976). Paris: Seuil.
Miller, Jacques-Alain (2008): The Other Side of Lacan, in: Lacanian Ink 32, 60-71.
Wilson, Laurie (1999): Alberto Giacometti’s Woman with Her Throat Cut: Multiple Meanings and Methodology, in: The Annual of Psychoanalysis, 26:143-172.